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Die Kieferninseln (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
160 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73735-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kieferninseln -  Marion Poschmann
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Ein Roman von meisterhafter Leichtigkeit: tiefgründig, humorvoll, spannend, zu Herzen gehend. Im Teeland Japan mischen sich Licht und Schatten, das Freudianische Über-Ich und die dunklen Götter des Shint?ismus. Und die alte Frage wird neu gestellt: Ist das Leben am Ende ein Traum?

Gilbert Silvester, Privatdozent und Bartforscher im Rahmen eines universitären Drittmittelprojekts, steht unter Schock. Letzte Nacht hat er geträumt, dass seine Frau ihn betrügt. In einer absurden Kurzschlusshandlung verlässt er sie, steigt ins erstbeste Flugzeug und reist nach Japan, um Abstand zu gewinnen. Dort fallen ihm die Reisebeschreibungen des klassischen Dichters Bash? in die Hände, und plötzlich hat er ein Ziel: Wie die alten Wandermönche möchte auch er den Mond über den Kieferninseln sehen. Auf der traditionsreichen Pilgerroute könnte er sich in der Betrachtung der Natur verlieren und seinen inneren Aufruhr hinter sich lassen. Aber noch vor dem Start trifft er auf den Studenten Yosa, der mit einer ganz anderen Reiselektüre unterwegs ist, dem Complete Manual of Suicide.



Marion Poschmann wurde in Essen geboren und lebt heute in Berlin. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis 2021 für ihren Lyrikband <em>Nimbus</em> und im selben Jahr mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis. Zuletzt erhielt sie 2023 den Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk.

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik und Slawistik und lebt heute in Berlin. Für ihre Prosa und Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Peter-Huchel- Preis und den Ernst-Meister-Preis für Lyrik; ihr Roman Die Sonnenposition stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und gewann den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013.

Tokyo


Er hatte geträumt, daß seine Frau ihn betrog. Gilbert Silvester erwachte und war außer sich. Das schwarze Haar Mathildas breitete sich neben ihm auf dem Kissen aus, Tentakel einer bösartigen, in Pech getauchten Meduse. Dicke Strähnen bewegten sich sachte mit ihren Atemzügen, krochen auf ihn zu. Er stand leise auf und ging ins Bad, starrte dort eine Weile fassungslos in den Spiegel. Ohne zu frühstücken, verließ er das Haus. Als er abends aus dem Büro kam, fühlte er sich immer noch wie vor den Kopf geschlagen, beinah betäubt. Der Traum hatte sich im Laufe des Tages nicht verflüchtigt und war nicht einmal ausreichend verblaßt, um die alberne Redensart »Träume sind Schäume« auf ihn anwenden zu können. Im Gegenteil war der Eindruck der Nacht stetig stärker geworden, überzeugender. Eine unmißverständliche Warnung des Unbewußten an ihn, das naive, ahnungslose Ich.

Er betrat den Korridor, ließ theatralisch die Aktentasche fallen und stellte seine Frau zur Rede. Sie stritt alles ab. Dies bewies nur, wie sehr sein Verdacht begründet war. Mathilda kam ihm verändert vor. Unnatürlich vehement. Aufgeregt. Verschämt. Sie bezichtigte ihn, daß er sich am frühen Morgen hinausgeschlichen und sich nicht von ihr verabschiedet habe. Sorgen. Gemacht. Wie. Konntest. Du. Nur. Endlose Vorwürfe. Ein fadenscheiniges Ablenkungsmanöver. Als läge die Schuld plötzlich bei ihm. Sie ging zu weit. Das ließ er nicht mit sich machen.

Er wußte später nicht mehr, ob er sie angeschrien hatte (wahrscheinlich), geschlagen (eventuell) oder bespuckt (nun ja), es konnte sein, daß ihm beim erregten Sprechen etwas Speichel aus dem Mund gesprüht war, jedenfalls hatte er ein paar Sachen zusammengerafft, seine Kreditkarten und seinen Paß an sich genommen und war weggegangen, am Haus vorbei den Bürgersteig entlang, und als sie ihm nicht hinterherkam und nicht nach ihm rief, war er weitergegangen, etwas langsamer erst und dann schneller, bis zur nächsten U-Bahn-Station. Er war im Untergrund verschwunden, traumwandlerisch, würde man im nachhinein sagen, durch die Stadt gefahren und erst am Flughafen wieder ausgestiegen.

Er verbrachte die Nacht in Terminal B, unbequem hingelagert auf zwei Schalenstühle aus Metall. Immer wieder überprüfte er sein Smartphone. Mathilda hatte ihm keinerlei Nachricht zukommen lassen. Sein Flug ging am nächsten Morgen, der früheste Interkontinentalflug, den er so kurzfristig hatte buchen können.

Im Airbus auf dem Weg nach Tokyo trank er grünen Tee, sah zwei Samuraifilme in der Rückenlehne des Vordersitzes und überzeugte sich immer wieder davon, daß er nicht nur alles richtig gemacht hatte, sondern daß sein Handeln unausweichlich gewesen war, daß es weiterhin unausweichlich war und unausweichlich sein würde, nach seiner persönlichen Meinung und nach der Meinung der Welt.

Er nahm sich zurück. Er pochte nicht auf sein Recht. Er machte den Weg frei. Für wen auch immer. Einen miesepetrigen Macho, ihren Chef, den Schulrektor. Einen gutaussehenden Jüngling, gerade erst volljährig, den sie angeblich betreute, einen Referendar. Oder eine ihrer penetranten Kolleginnen. Gegen eine Frau könnte er nichts ausrichten. Bei einem Mann wäre eventuell die Zeit auf seiner Seite. Er könnte die Entwicklung abwarten, alles aussitzen, bis sie sich besönne. Es lag ja nahe, daß der Reiz des Verbotenen früher oder später verflog. Aber bei einer Frau war er machtlos. Leider war der Traum in diesem Punkt nicht ganz deutlich gewesen. Allerdings war der Traum insgesamt deutlich genug. Sehr deutlich. Als hätte er es geahnt. Im Grunde hatte er es geahnt. Schon lange. War sie nicht auffallend gut gelaunt gewesen in den letzten Wochen? Geradezu fröhlich? Und auch betont freundlich zu ihm? Von einer diplomatischen Freundlichkeit, die von Tag zu Tag unerträglicher wurde, unerträglicher geworden wäre, hätte er früher gewußt, was dahintersteckte. So aber war es ihr gelungen, ihn lange in Sicherheit zu wiegen. Und er, er hatte sich einlullen lassen, ein klares Versagen seinerseits. Er war nicht ausreichend auf der Hut gewesen, er hatte sich täuschen lassen, weil sein Mißtrauen nicht ins Unendliche ging.

Die japanische Stewardeß, langes schwarzes Haar zu einem Geisha-Knoten aufgesteckt, schenkte ihm mit bezauberndem Lächeln Tee nach. Natürlich galt dieses Lächeln nicht ihm persönlich, aber er fühlte sich davon ganzkörperlich berührt, als habe man einen Eimer Balsam über ihn ausgegossen. Er nippte am Tee und beobachtete, daß sie dieses Lächeln auf ihrem Weg durch den Gang beibehielt, daß sie es jedem einzelnen der Fluggäste schenkte, unwandelbar, ein maskenhafter Liebreiz, der mit erschütternder Effizienz seinen Zweck erfüllte.

Er hatte immer gefürchtet, für Mathilda zu langweilig zu sein. Rein äußerlich schien ihre Beziehung intakt. Aber er konnte ihr auf Dauer nicht viel bieten, keine gesellschaftliche Abwechslung, keine genialische Spannung, keine charakterliche Tiefe.

Er war ein unscheinbarer Wissenschaftler, Privatdozent. Für eine Professur hatte es nicht gereicht, weil ihm der richtige Familienhintergrund fehlte, weil er keine nützlichen Kontakte zu knüpfen wußte, weil er nicht zu schmeicheln verstand, sich nicht andienen konnte. Weil er viel zu spät begriffen hatte, daß es im universitären Betrieb nur zweit- oder drittrangig um die Sache ging, sondern in erster Linie um Machtausübung in einem hierarchischen System. Hier hatte er Fehler gemacht, eine Unzahl von Fehlern. Seinen Doktorvater kritisiert. Es im ungeeigneten Moment immer besser gewußt. Sich dann, eingeschüchtert, in den Augenblicken zurückgehalten, in denen es darum gegangen wäre, zu prahlen.

Während unter ihm eine dichte Wolkendecke vorüberzog, glitten in seiner Erinnerung die vergangenen Jahre vorbei, eine bedrückende graue Masse aus Demütigungen und Mißerfolgen. Als junger Mann hatte er geglaubt, überdurchschnittlich intelligent zu sein, aus der Menge der spießigen, angepaßten Leistungsträger herauszustechen und die Angelegenheiten der Welt mit philosophischem Scharfsinn zu durchdringen. Jetzt fand er sich in prekären Verhältnissen wieder, hangelte sich von einem Projektvertrag zum nächsten und sah sich von seinen ehemaligen Freunden, die weitaus schlechtere Noten geschrieben und niemals eigene Ideen geäußert hatten, beruflich abgehängt. Freunde, die, man mußte es so deutlich sagen, fachlich inkompetenter waren als er. Sie besaßen aber im Gegensatz zu ihm diese gewisse Cleverneß im Verhalten, die in Karrieredingen das einzig Nützliche war.

Während die anderen es sich mit ihren Eigenheimen, Familien und Routinen gemütlich machten, sah er sich gezwungen, idiotische und nur mäßig bezahlte Arbeiten auszuführen, ihm aufdiktiert von Leuten, die er im Grunde des Herzens verachtete. Jahrelang hatte er in der Angst gelebt, sich dabei so zu verbiegen, daß er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Dann hatte die Angst nachgelassen und war einer allgemeinen Gleichgültigkeit gewichen. Er führte aus, was von ihm verlangt wurde, wandte seinen Scharfsinn an die schwachsinnigsten Aufgaben und konnte sich inzwischen, leider um Jahre, Jahrzehnte zu spät, auch den Anstrich geben, er sei mit allem einverstanden, sei nicht dagegen, sondern dafür.

Die japanische Stewardeß kam mit einem Korb, aus dem es dampfte. Sie reichte ihm mit einer langstieligen Metallzange ein aufgerolltes heißes Frotteetuch. Er wischte sich mechanisch damit die Hände ab, wrang das Tuch um seine Handgelenke, ließ die stechende Hitze in seinen Puls dringen, die reinste Wohltat, diese Sitte, dachte er, ein seltsamer Flug, bei dem man alles daransetzte, ihn zu beruhigen, er fuhr sich mit dem Tuch über die Stirn, eine Mutterhand bei Fieber, erstaunlich angenehm, aber schon begann es abzukühlen, er legte es sich aufs Gesicht, ein paar Sekunden nur, bis es nichts war als ein feuchter, kalter Lappen.

Das aktuelle Projekt hatte ihn zu einem Experten für Bartfrisuren gemacht. An Fragwürdigkeit kaum noch zu überbieten, sicherte es ihm immerhin über Jahre ein festes Einkommen. Und es war ihm mit der Zeit sogar gelungen, an dem unsäglichen Thema Gefallen zu finden, wie es im übrigen dem regelhaften Verlauf entsprach, daß das Interesse an den Einzelheiten wuchs, je mehr man sich in ein Gesamtsystem vertiefte. In der Fahrschule hatte er sich für Verkehrsregeln begeistert, in der Tanzschule für Schrittfolgen, es war keine ...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte ahornlaub • Askese • Bartforschung • Basho • Bashō • bücher neuerscheinungen • Deutscher Buchpreis • Ehe • Einsamkeit • Freud • Freundschaft • Füchse • Haiku • Japan • Kontemplation • Kulturwissenschaft • Leben • Literatur • Momijigari • Natur • Naturbetrachtung • Naturschönheit • Pilgerreise • Reise • Selbstmord • Shintoismus • Shintōismus • ST 4921 • ST4921 • suhrkamp taschenbuch 4921 • Suizid • Tee • Tokio • Traum • Über-Ich • Wandermönch • Wanderschaft
ISBN-10 3-518-73735-X / 351873735X
ISBN-13 978-3-518-73735-4 / 9783518737354
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