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Löwen wecken (eBook)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
432 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9299-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Löwen wecken -  Ayelet Gundar-Goshen
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Ein Neurochirurg überfährt einen illegalen Einwanderer. Es gibt keine Zeugen, und der Mann wird ohnehin sterben - warum also die Karriere gefährden und den Unfall melden? Doch tags darauf steht die Frau des Opfers vor der Haustür des Arztes und macht ihm einen Vorschlag, der sein geordnetes Leben komplett aus der Bahn wirft. Wie hätte man selbst in einer solchen Situation gehandelt? Diese Frage schwebt über dem Roman, der die Grenzen zwischen Liebe und Hass, Schuld und Vergebung und Gut und Böse meisterhaft auslotet.

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman Eine Nacht, Markowitz (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen, 2015 folgte der Bestseller Löwen wecken, für den, genauso wie für Lügnerin (2017), eine Filmadaption in Planung ist. Zuletzt erschien bei Kein & Aber Wo der Wolf lauert (2021). Ayelet Gundar-Goshen lebt in Tel Aviv.

2

Er schlief gut in jener Nacht. Besser als gut – er schlief ausgezeichnet. Einen tiefen und festen Schlaf, der auch dann noch anhielt, als die Sonne aufgegangen war. Als die Kinder aus den Betten waren. Als Liat sie zur Eile antrieb. Er schlief weiter, als Jahali wegen eines widerspenstigen Spielzeugs kreischte. Schlief durch, als Itamar den Fernseher laut aufdrehte. Schlief, als die Haustür ins Schloss fiel und man das Auto mit seiner ganzen Familie davonfahren hörte. Er schlief und schlief und schlief, und dann schlief er noch ein wenig, bis der Augenblick kam, in dem er auf keinen Fall mehr weiterschlafen konnte, und da wachte er auf.

Mittagslicht fiel durch die Jalousien und tanzte auf den Zimmerwänden. Draußen zwitscherte ein Vogel. Eine mutige, kleine Spinne wagte es, Liats Reinlichkeitsdrang die Stirn zu bieten, und spann emsig ihr Netz in der Ecke über dem Bett. Etan beobachtete die Spinne eine Weile, bevor der wohltuende Nebel des Schlafes verflog und eine einfache Wahrheit hinterließ: Gestern Nacht hatte er einen Menschen überrollt und war weitergefahren. Jede Zelle seines Körpers erwachte in dieser klaren, unabänderlichen Realität. Er hatte einen Menschen überrollt. Er hatte einen Menschen überrollt und war weitergefahren. Immer wieder sagte er sich diese Worte, bemüht, die Buchstaben und Silben zu einer klar verständlichen Aussage zu verbinden. Aber so oft er sie auch sagte, sie zerfielen in seinem Kopf, bis sie völlig ihre Bedeutung verloren. Nun sagte er den Satz laut, ließ die Klänge im Zimmer entstehen. Ich habe einen Menschen überrollt. Ich habe einen Menschen überrollt und bin weitergefahren. Doch so oft er sich den Satz wiederholte, erst flüsternd und dann laut, er kam ihm immer noch unwirklich vor, sinnlos sogar, als spräche er von etwas, das er in der Zeitung gelesen hatte, oder über ein schlechtes Fernsehprogramm. Auch die Spinne und der Vogel halfen nicht weiter – denn es war ja kaum anzunehmen, dass Vögel vor dem Fenster von jemandem sangen, der einen Menschen überrollt hatte und weitergefahren war. Dass Spinnen sich über dem Bett eines solchen Menschen einnisten wollten. Und doch fuhr die Spinne fort zu spinnen und der Vogel zu singen, und sogar die Sonne entzog ihm keineswegs ihren Glanz, sondern schien weiter durch die Ritzen der Jalousie und malte fantastische Lichtsprenkel an die Wand.

Und plötzlich war es Etan höchst wichtig, sich diese gut anzuschauen. Lichtflecken an einer weißen Wand. (Denn so ist das doch: Ein Mensch steht morgens auf und geht aus dem Haus und weiß nichts. Er küsst seine Frau auf die Nasenspitze und sagt zu ihr, wir sehen uns heute Abend, denkt wirklich, sie würden sich am Abend wiedersehen. Zu dem Lebensmittelhändler sagt er Auf Wiedersehen, mit voller Absicht. Und ihm ist glasklar, dass sie sich in ein paar Tagen wirklich wiederbegegnen werden, er und der Verkäufer und die Tomaten. Und dass sich bis dahin nichts wesentlich ändern wird, außer vielleicht der Tomatenpreis. Der Kuss auf die Nasenspitze, das ruhige Tasten in der Tomatenkiste, Lichtflecken an einer weißen Wand im gleichen Winkel zur gleichen Stunde, sie alle schulden ihre Existenz der Annahme, dass alles so bleiben wird, wie es ist. Die Erdkugel wird sich auch heute, wie gestern, wie vorgestern, mit derselben langsamen und schläfrigen Bewegung drehen, mit der sie Etan jetzt wiegt wie ein Baby. Würde sich die Kugel plötzlich andersherum drehen, würde Etan straucheln und fallen.)

Obwohl er nun schon hellwach war, blieb er reglos im Bett liegen. Wie sollte er es wagen, auf eigenen Füßen zu stehen, nachdem er einen Menschen überrollt hatte und weitergefahren war? Sicher würde die Erde doch unter ihm nachgeben.

Wirklich?, fragte ihn eine kalte und düstere und amüsierte Stimme. Würde sie wirklich nachgeben? Herrn Prof. Sakkai trägt sie doch bestens.

Bei diesem Gedanken richtete Etan sich im Bett auf und setzte einen nackten Fuß auf den Marmorboden. Und noch einen. Er schaffte drei Schritte Richtung Küche, bevor das Gesicht des toten Mannes wieder vor ihm aufblitzte und ihn lähmte. Mehrmals vor dir hersagen, dass du einen Menschen überrollt hast und weitergefahren bist, ist eine Sache, das Gesicht dieses Menschen vor Augen zu sehen, ist eine andere. Mit großer Anstrengung verdrängte er das Bild in den Hinterkopf und ging weiter. Vergebens. Noch ehe er die Tür erreichte, überfiel es ihn erneut, schärfer als zuvor: Die Augen des Eritreers sind einen schmalen Spalt geöffnet, die Pupillen erstarrt in einem Ausdruck ewigen Staunens. Diesmal kämpfte Etan mit doppelter Kraft gegen das Bild an. Rein da. Willst du wohl da reingehen. In denselben finsteren Speicher, in dem er all die anderen Bilder lagerte – die Leichen, die sie im ersten Studienjahr seziert hatten, die Horrorfotos von abgetrennten, verbrannten, verätzten Gliedmaßen, die die Dozentin für Traumabehandlung ihnen mit unverhohlenem Vergnügen im dritten Jahr gezeigt hatte, froh über jedes entsetzte Aufstöhnen im Hörsaal. »Ihr Bauch ist zu empfindlich«, sagte sie, wenn einer der Studenten eine schwache Ausrede murmelte und für ein paar Minuten an die frische Luft flüchtete, »und mit empfindlichem Bauch werden Sie keine Ärzte.« Die Erinnerung an Prof. Reinharts harte Züge half, den heftigen Sturm in seinem Innern ein wenig zu beschwichtigen. Nun hatte er schon die Küche erreicht. So sauber. Als hätten hier die Cornflakes-Kriege nie gewütet, als hätte es nie Kaffeekleckse gegeben. Wie schaffte Liat es bloß, dieses Haus so zu führen, dass es aussah wie der Schauraum eines Möbelgeschäfts?

Durch das große Fenster schielte er zum Jeep auf dem Parkplatz hinüber. Kein einziger Kratzer. Nicht umsonst hatte der Autohändler ihn den »Panzer von Mercedes« genannt. Und doch hatte er ihn gestern lange überprüft, war vor der Stoßstange in die Hocke gegangen, hatte seine Augen im bleichen Schein des Handys angestrengt. Es ist doch unglaublich, dass man einen Menschen einfach so umfahren kann, ohne eine Spur zu hinterlassen. Eine Delle im Blech, einen Knick in der Stoßstange, eine Erinnerung daran, dass was passiert ist. Ein Indiz dafür, dass da nicht nur Luft gewesen ist, sondern auch ein Körper, eine Masse, ein Widerstand. Aber der Jeep stand heil und gesund und unverändert auf dem Parkplatz, und Etan wandte den Blick vom Fenster und füllte mit zittriger Hand den Wasserkessel.

Das Gesicht des toten Mannes blitzte noch mehrmals vor ihm auf, als er sich Kaffee machte, aber weniger grell. Der Geruch von Putzmittel mit Zitronenduft in der Küche, der fast schon sterile Glanz der Arbeitsfläche, all das drängte die Visionen der letzten Nacht hinaus, wie die Kellner in Tel Aviver Restaurants die Bettler hinausdrängten. Etan strich dankbar über die Arbeitsfläche aus Edelstahl. Vor drei Monaten, als Liat auf dieser Anschaffung bestanden hatte, war er gegen die Verschwendung Sturm gelaufen. So viel Geld für eine Küche, die er in weniger als zwei Jahren hinter sich lassen wollte, sobald sein aufgezwungenes Exil inmitten der Wüste beendet wäre. Aber Liat war festgeblieben, und er hatte einwilligen müssen, sich jedoch das Recht vorbehalten, die überflüssige Ausgabe bei jedem Betreten des Raums wütend anzublicken. Jetzt betrachtete er die Küche mit einer gewissen Verbundenheit, denn nichts konnte düstere Bilder besser löschen als eine blanke Edelstahlfläche. Er war überzeugt, zwischen der hochmodernen Spülmaschine und dem erstklassigen Dunstabzug würde ihm nichts zustoßen. Stimmt, der Kaffeebecher wäre ihm beim Anheben beinahe aus der Hand gefallen, weil die Erinnerung an die Hand des toten Mannes erbarmungslos zuschlug, aber er konnte sie abwehren und den Becher stabilisieren. Und selbst wenn der Becher hinuntergefallen wäre, hätte er einfach einen Lappen genommen und den Kaffee aufgewischt. Denn damit musste man rechnen – Geschirr würde zu Bruch gehen in den nächsten Tagen. Es würde Momente geistiger Abwesenheit geben. Albträume vielleicht. Aber er würde die Scherben auflesen und den Boden wischen und sein gewohntes Leben fortsetzen. Er musste weiterleben. Und wenn der Kaffee jetzt auch abgestanden und bitter schmeckte, seine Hände trotz Klimaanlage schwitzten, er sich beherrschen musste, um nicht weinend vor Scham zu Boden zu sinken, würde er den Becher doch ins Wohnzimmer tragen, zum Sofa. Dieser Schmerz musste ja letzten Endes vergehen. Es würde zwei Wochen oder einen Monat oder fünf Jahre dauern, aber schließlich würde er vergehen. Die Neuronen im Gehirn sendeten bei einem neuen Reiz ungeheuer schnell elektrische Signale. Doch mit der Zeit ließ die Geschwindigkeit nach, bis die Stromstöße ganz versiegten. Habituation. Schrittweiser Verlust der Reizempfindlichkeit. »Sie betreten ein Zimmer, in dem es penetrant nach Abfall riecht«, hatte Prof. Sakkai doziert. »Sie meinen, Sie müssten sich gleich übergeben. Die Geruchsmoleküle reizen das Riechepithel, das wiederum dringende Signale an Amygdala und Hirnrinde sendet. Ihre Neuronen schreien um Hilfe. Aber wissen Sie, was nach einigen Minuten passiert? Die Neuronen hören auf, haben keine Lust mehr zu schreien. Dann kommt jemand anders ins Zimmer und sagt ›Hier stinkts aber‹, und Sie haben keine Ahnung, wovon er spricht.«

Auf dem Sofa, den mittlerweile fast leeren Kaffeebecher in der Hand, starrte Etan auf den dunklen Rest am Boden des Bechers. Der erste Streit zwischen Liat und ihm war ausgebrochen, als sie ihm in der dritten Woche ihrer Bekanntschaft erzählt hatte, ihre Großmutter lese aus dem Kaffeesatz.

Du willst sagen, sie meint, aus dem Kaffeesatz zu lesen.

Nein, hatte Liat beharrt, sie liest wirklich daraus. Sie blickt...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2015
Übersetzer Ruth Achlama
Sprache deutsch
Original-Titel Leha'ir Arajot
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Chirurgie • Ehe • Einwanderer • Erpressung • Flüchtlinge • Gesellschaft • Gewissen • Illegalität • Israel • Korruption • Lügen • Migration • Moral • Roman • Schuld • Totschlag • Unfall • Vergebung
ISBN-10 3-0369-9299-5 / 3036992995
ISBN-13 978-3-0369-9299-0 / 9783036992990
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