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Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek (eBook)

Roman

***** 1 Bewertung

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
314 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-10774-6 (ISBN)
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Bobby Nusku fristet seine Tage damit, Haare, Kleidungsstücke und weitere Spuren seiner verschwundenen Mutter zu sammeln und zu archivieren. Er fühlt sich im Haus seines grobschlächtigen Vaters und dessen wasserstoffblonder Freundin ziemlich einsam, besonders nachdem sein einziger Freund Sunny eines Tages wie vom Erdboden verschluckt ist. Die Freundschaft zum Nachbarsmädchen Rosa und ihrer Mutter Val, die Putzfrau in einem Bücherbus ist, gibt ihm Hoffnung und macht ihm Mut, sich gegen sein Schicksal aufzulehnen. Als alles drunter und drüber geht, machen sich Val, Rosa und Bobby gemeinsam mit dem sympathischen Outlaw Joe auf eine verrückte Reise mit Vals Bücherbus quer durch England. Im Gepäck haben sie nur das Nötigste: ihre Freundschaft und eine Menge guter Bücher.

David Whitehouse wurde 1981 in Nuneaton, England geboren. Sein Debut »Bed« wurde 2010 mit dem »To Hell with Prizes Award« ausgezeichnet. Er lebt in London.

David Whitehouse, geboren 1981 in Nuneaton, England. Nachdem er 2015 für seinen Roman "Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek" per Bus durch Deutschlands Buchhandlungen reiste, erscheint seinen neuen Roman "Der Blumensammler". David Whitehouse lebt in London.

Lippen. Klebrig. Seine Mutter küsste anders. Nur wenn er Vals Make-up schmeckte, dachte er an den Altersunterschied.

»Kriegen wir jetzt Ärger?«, fragte Bobby.

»Nein«, sagte Val. »Jetzt nicht mehr.«

Die weißen Klippen Südenglands breiteten sich hinter ihnen aus und verloren sich im Blau, dort, wo Meer und Himmel miteinander verschmolzen. Hoch oben in der Fahrerkabine des Bücherbusses konnten sie das unter ihnen liegende Land nicht mehr erkennen, nur noch die unablässige Schleife des Ozeans, als führen sie zu einem weit entfernten Ziel hinüber. Eine sichelförmige Phalanx aus Polizeiautos drängte sie an den Rand der Klippen. Lichter blitzten. Hubschrauber durchschnitten die Luft. Als die Sirenen verstummten, sah er sie. In dem schwachen Licht des Armaturenbretts war sie von erlesener Schönheit.

Rosa lag mit dem Kopf in der Sonnenlache, die sich auf Vals Schoß gesammelt hatte. In Bobbys Magen rumorte es.

»Hast du Hunger?«, fragte Val. Das Geräusch – ein Schnurren – hatte seinen Ursprung in einem ganz anderen Teil seines Innern, einem, der zufrieden war, einem, den keine brodelnden, säuregefüllten Kammern oder sonstige körperliche Belange quälten.

»Nein«, sagte er und küsste sie noch einmal. Kriminalinspektor Jimmy Samas stand neben seinem Auto. Er hatte genug von dieser Jagd, auch wenn ihr unmittelbar bevorstehendes Ende ihn mit neuem Schwung erfüllte. Er wusste, dass die anderen Beamten nur auf seinen Befehl warteten, aber er konnte keinen aus dem Ärmel zaubern. Dieser Fall hatte in den Medien große Beachtung gefunden. Es war an ihm, die Ermittlungen zu leiten, und seine Kollegen gingen davon aus, dass er wusste, was zu tun war. Aber da irrten sie sich.

Manchmal hatte er das Gefühl, zu jung für seinen Job zu sein, auch wenn er genau deswegen so gut darin war. Sein jungenhaftes Wesen und seine glatte, makellose Haut machten ihn den Leuten sympathisch. Und Sympathie ist bei jeder Verhandlung ein unschätzbarer Vorzug. Dieser milchgesichtige Junge, den man da vorgeschickt hatte, um die Arbeit erwachsener Männer zu tun, tat den Leuten sofort leid, und genau in der Sekunde, in der sie abgelenkt waren, gelang es Inspektor Samas für gewöhnlich, eine Geisel zu befreien oder einen Selbstmörder vom Sprung abzuhalten.

Eine zähe, nagende Müdigkeit hinderte ihn daran, sich zu konzentrieren. Er überlegte, welcher Gesichtspunkt in der gegenwärtigen Situation Vorrang hatte. Ein wichtiger Teil seiner Ausbildung hatte darin bestanden, das jeweilige Ermittlungsziel immer wieder neu einschätzen zu lernen, und er tat gut daran, sich jetzt daran zu erinnern, während seine Augenlider vor Müdigkeit krampfartig zuckten.

Von größter Wichtigkeit war ihm die Sicherheit der beiden Kinder, Bobby Nusku und Rosa Reed, der eine zwölf, die andere dreizehn Jahre alt. Gleichzeitig aber flammten hundert andere Gedanken durch sein erhitztes Gemüt. Da war zunächst einmal die Frau, Rosas Mutter, Valerie Reed. Es war durchaus möglich, dass sie den Laster jeden Moment einfach hinunter ins Meer fuhr. Wer konnte schon wissen, was in ihr vorging? Es war eine unglaublich anstrengende Sache, sich dem Arm des Gesetzes zu entziehen, sei es nun vorsätzlich oder nicht (das würde sich noch herausstellen). Kidnapper in Ersttäterschaft, insbesondere alleinstehende Mütter, die ansonsten keinerlei Vorstrafen aufzuweisen hatten, litten sicherlich viel stärker unter dem ganzen Druck und der Angst als die meisten anderen. Ein falscher Schritt von ihm, und das Ganze könnte in einer Katastrophe enden. Er sah, wie unmittelbar hinter der Polizeiabsperrung ein Fernsehteam seine Ausrüstung aufbaute, und löste sich den Hemdkragen vom schweißverklebten Hals. Und jetzt auch noch eine live im Fernsehen übertragene Katastrophe.

Abgesehen von Ms Reed gab es da natürlich auch noch das nicht unerhebliche Problem, dass sich seiner Vermutung nach hinten im Fahrzeug ebenjener Mann versteckt hielt, dessen Verfolgung ihm nun schon seit Monaten den Schlaf raubte. Er setzte das Megafon an den Mund, ohne jedoch auf den Knopf zu drücken. Stattdessen genoss er die Stille. Eine Stille, wie es sie nur am Meer geben kann. Das Hohngelächter der Seemöwen im Sturzflug. Die von der Brandung umspülten Felsen. Er atmete tief ein und versuchte, etwas von dieser heiteren Gelassenheit auf sich abfärben zu lassen.

Der Bücherbus war an einen Sattelzug gekoppelt, einen von diesen riesigen Dingern, die einem die Zähne im Kopf durchrütteln, wenn sie auf der Autobahn vorbeidonnern – ein echter Asphalterschütterer. Der ursprünglich erbsengrün lackierte Bibliotheksanhänger war so lang, dass Val im Rückspiegel sein Heck kaum erkennen konnte, nur den rostigen Saum der Lackierung. Wenn der Bücherbus durch die Landschaft rollte, wirkte er von weitem wie eine Fata Morgana, die auf einer flüchtigen Brise dahintrieb. Mittlerweile begann die weiße Emulsionsfarbe abzublättern, mit der sie den Anhänger übermalt hatten, und seine ursprüngliche Farbe kam wieder zum Vorschein. Auch der Schriftzug »Bibliothek« tauchte langsam wieder auf, wie die Rückkehr einer längst vergessenen Erinnerung.

An einer Seite war auch das Gewicht vermerkt: zwanzig Tonnen. Vor vielen Monaten, als sie auf den Stufen des Bücherbusses gesessen und zugesehen hatten, wie die gezackten Kondensstreifen der Düsenjets den errötenden Sommerhimmel durchschnitten, hatte Val gesagt, dass ein Wal durchaus so viel wiegen könne, »gesetzt den Fall, man schafft es, ihn zu schnappen und auf die Waage zu schmeißen«. Rosa hatte begeistert gejohlt. Sie lasen damals gerade gemeinsam Herman Melvilles Moby Dick, und jetzt, da das Meer vor ihrem Blick ausgebreitet lag, kam es Rosa so vor, als würde ein winziger Bruchteil der Geschichte auf wunderbare Weise Wirklichkeit. Während sie die Schaumkronen der Wellen nach dem flüchtigen Auftauchen eines silbrig schimmernden Walbuckels oder einer aus einem Blasloch aufsteigenden Wasserfontäne durchsuchte, verschmolz Ahabs Herz (wie ein Besessener nach ihm suchend) mit Rosas. Es schlug so wild, als könne ihre Fantasie es mit einem Überfluss an Freude zum Zerplatzen bringen. Wie schnell würde der Bücherbus wohl sinken, fragte sie sich, wenn der Wal ihn zertrümmerte und mit sich in die Tiefe zog? Sie würde nicht mehr lange auf die Antwort warten müssen.

»Ich liebe dich«, sagte Bobby, und Val zuckte zusammen, als hätte sie diese drei Wörter noch nie in einer so schmerzlichen Reihenfolge gehört.

Die Sonne stieg immer höher und verdrängte mit ihrer Hitze die kühle Luft aus der Fahrerkabine. Bobbys T-Shirt klebte ihm am Bauch und war nur noch eine durchsichtige Haut über dem bleichen Grinsen seiner Narben. Bert hechelte und der Schweiß sammelte sich auf seiner knopfartigen, schwarzglänzenden Nase.

Inspektor Samas hatte nicht mit der Gegenwart eines Hundes gerechnet. In keinem einzigen Bericht zu dem Fall war von einem Hund die Rede gewesen. Erst jetzt, als die über ihren Köpfen surrenden Polizeihubschrauber das Tier gesichtet und ihm diese Neuigkeit über das an seinem Gürtel angebrachte Funkgerät mitgeteilt hatten, erfuhr er von dessen Existenz. Ein Hund! Wie war es möglich, dass man das übersehen hatte? Auch ein so scharfsinniger Detektiv wie er konnte unmöglich alle Details eines derart ausufernden Falls überblicken. Das war ganz genau die Art von Fehler, die er unbedingt hatte vermeiden wollen. Tiere waren noch viel unberechenbarer als Kidnapper oder Flüchtige. Je weniger Haare die Variable in einer Krisensituation hatte, desto besser. Er stellte sich vor, wie sich das Tier wütend in seinen Schritt verbiss, während er versuchte, die Freilassung der Kinder auszuhandeln. All dieses Kopfzerbrechen über die ihm bevorstehende Aufgabe hatte ihm bereits die ersten stechenden Anzeichen einer katastrophalen Migräne beschert. Er schaltete sein Handy aus, für den Fall, dass bei seiner Freundin die Wehen einsetzten und sie ihn anrief. Einen Moment lang überkamen ihn Schuldgefühle. Schlechtes Timing, dachte er. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen.

Eine Zeitlang geschah nichts. Der Bücherbus stand seltsam bewegungslos, wie schlafend am Klippenrand, umringt von Polizeiautos. Er schien in jener beklommenen Windstille gefangen, die sich kurz vor dem Hereinbrechen der Zukunft ausbreitet. Val hatte bis jetzt nie besonders viel vorausgeschaut. Ihrer Ansicht nach war die Zukunft eine Art Stereogramm, das immer gerade dann verschwand, wenn sie im Begriff war, endlich seine Umrisse zu erkennen. Doch jetzt, in diesem Augenblick, konnte sie die Zukunft ganz deutlich sehen. Sie war wunderschön und voller Liebe, und sie wollte unbedingt, dass sie eintraf, doch nie zuvor schien sie weiter entfernt zu sein. Aber vielleicht war es ja auch sie selbst, die verschwand.

»Wir haben ein Abenteuer erlebt«, sagte Val, als sei es nun vorbei. »Mehr wollten wir doch gar nicht.«

Ein warmer Schleier legte sich über Bobbys Augen. »Genau wie in einem Buch«, sagte er.

Dann warf er einen Blick in den Rückspiegel und sah dort den Inspektor, der sich dem Laster näherte. Er hatte ihn vorher schon ein paarmal gesehen, in den Fernsehnachrichten. Der Schnurrbart des Inspektors hatte lauter rote Tupfen – wie eine säuberlich zurechtgestutzte kupferfarbene Markise, die seine Lippen überschattete – und sein Hemd war zerknittert, als wären seine Kleider ohne ihn schlafen gegangen.

Während Inspektor Samas im Kopf alle Fakten durchging, die ihm über Valerie Reed bekannt waren, wurde ihm klar, dass er mehr über sie wusste als über seine eigene Freundin. Aber statt ihn traurig zu stimmen, erfüllte ihn diese...

Erscheint lt. Verlag 13.2.2015
Übersetzer Dorothee Merkel
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuergeschichte • Bobby Nuskus • Freundschaft • Lesen • Roman
ISBN-10 3-608-10774-6 / 3608107746
ISBN-13 978-3-608-10774-6 / 9783608107746
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5 Außergewöhnlich

von (Werneck), am 01.03.2015

Eine Geschichte über starke Gefühle, Menschen, die sich auf vielfache Weise nicht gut tun, aber auch Hoffnung auf eine Ersatzfamilie- genau das macht dieses Buch aus. Es muss nicht immer die genetische Familie sein, mit der man den Rest des Lebens verbringt- die "Herz-Familie" ist mindestens genauso gut und wichtig! Das vorweggenommene Ende gleich zu Beginn ist zwar seltsam/ungewöhnlich, passt aber im Rückblick auf die Hauptpersonen, die mit der gestohlenen Bibliothek "on tour" sind. Das Lesen der verschiedenen Schicksale bewegte mich, packte mich aber auch, unterhielt mich und zusammen mit dem außergewöhnlichen Schreibstil war ich sofort mittendrin- leider aber auch viel zu schnell wieder fertig mit der Geschichte à la "Thelma and Louise". Sehr gerne möchte ich mehr Bücher des Autors kennenlernen. :-)
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,6 MB

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