Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Das Zimmer (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
203 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75530-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Zimmer -  Andreas Maier
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
(CHF 11,70)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Mit einem Bein steht er noch im Paradies, dafür hat die Geburtszange gesorgt. Immer ist er ein Kind geblieben, und wurde doch stets älter, und leben mußte er auch irgendwie. Nun ist er schon dreißig. Ein Tag im Leben Onkel J.s. Es ist das Jahr der ersten Mondlandung. 1969. Hin- und hergerissen zwischen Luis Trenker, der Begeisterung für Wehrmachtspanzer und den Frankfurter Nutten, wird J. plötzlich als ein Mensch erkennbar, der außerhalb jeden Schuldzusammenhangs steht, noch in den zweifelhaftesten Augenblicken. Einer, der nicht zugreift, weil er es gar nicht kann, während die Welt um ihn herum sich auf eine heillose Zukunft vorbereitet.

<p>Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschlie&szlig;end Altphilologie. Er lebt in Frankfurt am Main.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch/Inhalt 3
Impressum 5
Das Zimmer 6
1 8
2 22
3 85
4 97
5 114
6 134
7 160
8 180
9 189

1


Das Zimmer meines Onkels J. liegt im ersten Stock links zur Uhlandstraße hin, direkt gegenüber dem Badezimmer, das mein Onkel wahrscheinlich gar nicht benutzen durfte. Meistens, wenn ich als Kind bei meiner Großmutter war, schlief er, dann stank das ganze Haus. War er weg, das heißt in Frankfurt, Pakete schleppen, blieb der Geruch dennoch. Im Grunde roch das Haus jahrelang nach dem Silagegeruch J.s. Das fing an, als ich acht, neun Jahre alt war. Vorher hatte er sich noch vergleichsweise regelmäßig gewaschen. Bis heute erinnert sich meine Nase jedesmal an J., wenn ich den Keller in der Uhlandstraße betrete, seinen Bezirk. Dort unten hatte man ihm eigens ein Badezimmer eingerichtet, mit Duschkabine und Toilette. Er führte dort eine Kellerexistenz als eingebildeter Handwerker. J. war in einer Steinmetzfamilie aufgewachsen, umgeben von Handwerkern. Der Betrieb hatte etwa dreißig Angestellte und war im drei Kilometer entfernten Friedberg ansässig. Als Jugendlicher war Onkel J. oft dort, man hämmerte und sägte und schnitt und polierte, riesige Lastkräne waren über das gesamte Gelände verstreut, und es gab Techniker, die die Maschinen instand hielten, Arbeiter, die schweißten und frästen, einen Schmied, der die Werkzeuge herstellte, Dinge paßgerecht machte, das faszinierte meinen Onkel, er hielt sich im folgenden selbst für einen Handwerker und begann, sich im Keller in der Uhlandstraße eine Werkstatt einzurichten, freilich nichts anderes als eine Phantasiewerkstatt, eine Scheinwerkstatt. Noch heute hängen dort Schraubenkästen an der Wand, es liegt immer noch diverses Werkzeug herum, auch wenn das allermeiste schon vor zwanzig Jahren weggeräumt wurde, nach seinem Auszug (J. mußte das Haus nach dem Tod seiner Mutter, meiner Großmutter, bei der er zeit ihres Lebens gewohnt hatte, bis über sein sechzigstes Lebensjahr hinaus, verlassen). Ein Spannbock ist noch da, und ich erinnere mich daran, wie J. einstmals in diesen Spannbock, als er noch lebte und noch in der Uhlandstraße wohnte und seine Mutter noch da war und die Welt für ihn in gewisser Weise also noch in Ordnung und nicht völlig beschädigt bzw. zerstört … wie er einstmals dort Schrauben einspannte, mit großer Sorgfalt eine unter mehreren Eisenfeilen auswählte, die Position der Schraube im Spannbock nach einer bestimmten Idee oder einem bestimmten handwerklichen System, das er sich einbildete, noch einmal überprüfte und korrigierte und dann zu feilen begann, wobei ich, das Kind, nie unterlassen konnte zu fragen, wozu er das gerade mache, d. h. zu welchem Zweck er zum Beispiel gerade an der Schraube feile. J. erklärte mir daraufhin mit einer gewissen verzweifelten Wut sämtliche Instrumente, die er gerade verwendete (»der Spannbock ist dazu da, eine Schraube einzuspannen, siehst du, hier öffnet man ihn, so schließt man ihn«), aber auf meine Frage ging er nicht ein, sie schien für ihn nicht zu existieren. Er merkte jedoch, daß etwas nicht stimmte, und das machte ihn wütend. Mit der Zeit begriff er, daß ich ihm sein Feilen an der Schraube nicht glaubte. Da stand er, der damals etwas über vierzigjährige Onkel J., mit mir als Kind im Keller, seinem Bezirk, in der Werkstatt, in der er sein durfte, was er nie war und auch nie hatte werden dürfen, und das Kind fragte nach, und Onkel J. feilte nur mit immer größerer Wut, bis er gänzlich in Gefluche und danach in Sprachlosigkeit verfiel.

Ich weiß, daß es mich immer gruselte, wenn ich den Keller betrat, da ich wußte, er ist, zumindest in Teilen, der Bereich des Onkels. Es gab dort unten auch die Waschküche, es gab den Raum zum Trocknen der Wäsche, den Weinkeller, J.s Werkstatt lag gleich neben dem Trockenraum, und man mußte durch die Werkstatt hindurchlaufen (genaugenommen handelt es sich um einen Raum von sechs oder sieben Quadratmetern), um zu der kühlen Kammer mit dem Wein zu gelangen. Somit war die Werkstatt ein öffentlich passierbarer Raum, anders als J.s Zimmer im ersten Stock. Ich habe J. meistens in der Werkstatt erlebt. Im Wohnzimmer hielt er sich zur damaligen Zeit selten auf, zumindest nicht dann, wenn jemand zugegen war im Haus meiner Großmutter. Die Werkstatt war sein Freizeitvergnügen, vielleicht auch sein Lebenssinn, abgesehen von den Frauen, über die ich nur Vermutungen habe, nur Vermutungen und einige allerdings deutliche Hinweise. Ich muß gestehen, die erste Zeit hielt ich J. tatsächlich für einen Handwerker, für einen Eisenspezialisten. Vielleicht dachte ich anfänglich sogar, er arbeite im Keller irgend etwas, das im Zusammenhang mit der Steinwerkefirma stehe. Später, als ich begriffen hatte, daß J. dort unten rein und ausschließlich »selbständig« arbeitete, ging ich aber immer noch davon aus, daß er tatsächlich etwas mache und irgend etwas schaffe oder zumindest repariere. Es lagen auch kleine Generatoren und Motoren und Schalter herum, und allein weil sie da herumlagen, dachte ich, J. kenne sich mit all diesen Dingen aus und begreife sie. Tatsächlich nahm er diese Gegenstände bloß mit, wenn sie in der Firma weggeworfen wurden, schraubte sie zu Hause auf, stierte hinein und begriff überhaupt nichts, denn er war hauptsächlich, auch wenn man es nicht auf den ersten Blick sah, ein Idiot. Er machte es nicht einmal wie gewisse Phantasiekünstler, die aus verschiedenen Materialien, Teilen und übriggebliebenen, für ganz anderes gedachten Gegenständen Collagen oder seltsame, funktionslose Apparaturen oder Mobiles zusammensetzen, die wenigstens durch ihre Größe oder durch die Anzahl der Einzelteile, aus denen sie bestehen, und durch ihre phantastische Form für ihre Schöpfer etwas Werkhaftes darstellen. Nein, ich glaubte damals bald und bin noch heute der festen Überzeugung, daß es für J. in seiner Werkstatt ausschließlich um eines ging: nämlich in der Welt dort oben, und insbesondere in der Welt des drei Kilometer entfernten Steinmetzbetriebs, dazuzugehören. Dem Bericht meiner Mutter zufolge war mein Onkel J. von seinem Vater, meinem Großvater, nie akzeptiert worden, was auch immer dieses Wort im Hinblick auf meinen Onkel bedeuten mochte. Ich selbst hatte Onkel J. damals ja nicht nur nie akzeptiert, er war vielmehr, so wie er aussah und sich verhielt, das Urbild des Grauens für mich in meiner Kindheit, und auch wenn ich inzwischen begriffen habe, daß mein Onkel ein Mensch war, der stets mit einem Fuß im Paradies geblieben ist, so ist mir trotzdem nach wie vor nur schwer vorstellbar, wie ich damals manchmal eine ganze halbe Stunde mit ihm im Keller verbringen konnte. Wahrscheinlich mußte ich zu ihm in den Keller, wenn meine Großmutter zum Schade & Füllgrabe einkaufen ging oder sich mit einer Freundin traf. Ich kann mich an meine Unruhe dort unten erinnern. Obgleich ich jedesmal inständig hoffte, bald wieder aus dem Keller herauszukommen, betrachtete ich trotzdem immer wieder J.s Feilen und Bohren und Schleifen, war verwundert und fragte am Ende doch wieder nach (es kam mir gar nicht in den Sinn, diese Fragen endlich einmal sein zu lassen). Anschließend ärgerte sich J. immer wütender in sich hinein – er machte währenddessen seltsame Zischlaute und schüttelte einen Schraubenschlüssel oder eine Rohrzange in seiner Hand, als wolle er auf irgend etwas eindreschen und am Ende auf mich – und irgendwann kam die Großmutter und erlöste mich.

Wie ungewöhnlich es war, daß dort unten im Keller ein ganzes Badezimmer für meinen Onkel eingerichtet war, begriff ich damals nicht. Der Ort, die Uhlandstraße, hatte für mich ja keine Geschichte, sondern war für mich, das Kind, schon seit Ewigkeit da (ich empfand mich selbst ja auch als schon immer da). Und weil schon alles immer da war, brauchte es für all das ebensowenig eine Begründung, wie man für die Sonne oder die Schwerkraft eine Begründung braucht. In den ersten Jahren meines Lebens geschahen auch noch zu wenige Veränderungen, um mich auf den Gedanken zu bringen, die Welt, insbesondere was die Menschen angehe, unterliege einem steten Wandel. Ich hatte keine Ahnung davon, wie sie sich von Generation zu Generation änderte. Meine Existenz war damals eine ewige, und ewig war jeder Tag, weil alles festgefügt war. Eine Frage wie »Warum ist da eigentlich im Keller ein ganzes Badezimmer mit Dusche, Wanne und Toilette eingerichtet?« konnte gar nicht aufkommen. Eigentlich verwunderte mich dieses Badezimmer erst, als ich erstmals nach mehr als zwanzig Jahren den Keller in der Uhlandstraße wieder betrat. Wie es aussah! Es war ein einigermaßen hell und vollständig gekachelter Raum im Souterrain, in dessen Bodenmitte sich ein Abfluß befand, ein kleines Fenster auf Kopfhöhe, nirgends Zierat, ich mußte sofort an Gestapokeller denken oder zumindest an Aki-Kaurismäki-Filme. Als Kind, als ich drei, vier Jahre alt war, existierten weder Gestapokeller noch Kaurismäkifilme, sondern eine totale, unveränderliche, unwiderrufliche Welt, in der alles festgefügt war außer mir, der ich mich nämlich durch diese ganze Welt bewegen konnte, wie ich wollte (bzw. sollte), und obgleich diese Welt eigentlich nur aus zwei Häusern bestand, aus meinem Elternhaus und dem Haus in der Uhlandstraße, in das ich viel später, 1999, selbst einziehen würde, als schon alle tot waren, war es dennoch die universalste Welt, die man sich denken kann. Übrigens erweiterte ich diesen Weltkreis im weiteren Verlauf meines Lebens kaum, eigentlich später nur noch um den Begriff Wetterau, und dabei ist es dann auch geblieben, vom Zimmer meines Onkels über den Keller und alles Weitere bis hin zur Wetterau, meiner Heimat. Selbst Rom und alle anderen Städte, in denen ich gelebt habe, sind heute Bestandteil der Welt, die die Wetterau ist.

Meines Erachtens hatte es mein Onkel nicht auf Jungens abgesehen, sonst hätte er irgend etwas mit mir dort unten im Keller gemacht....

Erscheint lt. Verlag 7.1.2012
Reihe/Serie Ortsumgehung
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Frankfurt am Main • Geistig Behinderter • Geschichte 1969 • Lebensbewältigung • ST 4303 • ST4303 • suhrkamp taschenbuch 4303 • Wilhelm-Raabe-Literaturpreis
ISBN-10 3-518-75530-7 / 3518755307
ISBN-13 978-3-518-75530-3 / 9783518755303
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Zusätzliches Feature: Online Lesen
Dieses eBook können Sie zusätzlich zum Download auch online im Webbrowser lesen.

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 12,65
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 12,65