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Familienbande bei Autismus -  Inez Maus,  Jannis Benjamin Ihrig

Familienbande bei Autismus (eBook)

Wie Zusammenleben gelingen kann
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-040372-7 (ISBN)
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Wie entstehen Familienbande in Familien mit autistischem Kind? Was festigt sie? Gibt es einen besonderen Zusammenhalt in solchen Familien oder gestalten sich die Beziehungen dort schwierig? Im Buch blicken Familien mit autistischem Mitglied gemeinsam zurück auf die Zeit der Kindheit: Wie funktionieren die Familien mit und trotz Autismus? Im Dialog miteinander analysieren die AutorInnen, die Mutter und Sohn sind, die Beziehungen in der Familie. Interviews mit Mitgliedern verschiedener Generationen anderer Familien zeigen die individuellen Wege auf, wie familiärer Zusammenhalt geschaffen und aufrechterhalten werden kann, und geben Hinweise für ein aktiv gestaltetes Miteinander. Dieses Buch richtet sich gleichermaßen an Angehörige und autistische Menschen. Für Fachkräfte komplementiert es symptombezogenes Fachwissen, indem es die Einsicht vermittelt, wie weitgreifend Autismus das soziale Umfeld der gesamten Familie beeinflusst und welche Möglichkeiten zur positiven Einflussnahme bestehen.

Inez Maus ist Mutter eines autistischen Jungen und befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Autismus. Die promovierte Biochemikerin lebt in Berlin und ist selbstständige Autorin, Lektorin und Referentin zu autismusspezifischen Themen. Jannis Benjamin Ihrig hat mit 9 Jahren die Diagnose Autismus bekommen. Sein Studium der Philosophie hat er mit dem Master abgeschlossen.

1 Einführung in das Thema: Autismus in der Familie


Inez Maus

Benjamin, dir ist es gelungen, unser Weltbild gründlich umzustülpen. Du hast uns eine neue Sicht auf die Welt gelehrt, die wir nicht mehr missen wollen. Indem du uns gelegentlich an unsere Grenzen geführt hast, haben wir gespürt, wie viel Kraft in uns steckt und wie wir diese entfesseln können. In Analogie zum Bild der »Rabenmutter« hast du einmal gesagt, du wärst in unserer Familie der »Rabensohn«. Nur weil du deine Liebe, Zuneigung und Fürsorge anders äußerst, bist du keineswegs so ein schwarzes Vogelkind, um bei deinem Bild zu bleiben. Gerade deine Vermutung, dass du ein »Rabensohn« sein könntest, zeigt, wie viele Gedanken du dir um uns als Familie machst!4

Autismus als tief greifende oder neuronale Entwicklungsstörung (nach ICD-10 bzw. ICD-115) wird in der Literatur als große Herausforderung für Eltern, als familiäre Belastung und als Notwendigkeit, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen, beschrieben. Einige Beispiele sollen dies im Folgenden verdeutlichen.

Aufgrund der Tatsache, dass ein autistisches Kind auf vorhandenes Erziehungswissen der Eltern anders als erwartet reagiert, ist davon auszugehen, »dass das Selbstwirksamkeitserleben der betroffenen Eltern sinkt oder nicht ausreichend entsteht« (Schlitt, Berndt & Freitag, 2015, S. 53 f.). Eltern eines autistischen Kindes sind demnach »in besonderem Maße auf fachliche Unterstützung beim Verständnis des Störungsbildes und beim Umgang mit problematischem Verhalten der Kinder in der alltäglichen Interaktion angewiesen« (Sarimski, 2021, S. 69). Fachliche Unterstützung kann aber ebenso zu vermehrtem Stress führen, bspw. dann, wenn die »Eltern berichten, dass sie immer unter Druck gestanden hätten, umzusetzen, was Pädagogen, Lehrer und Therapeuten gesagt hätten« (Arens-Wiebel, 2019, S. 21).

Schwierigkeiten im kommunikativen und sozialen Bereich – insbesondere beim Erkennen und Ausdrücken von Gefühlen – führen dazu, dass es zu einer »massiven Verletzung der elterlichen Beziehungsbedürfnisse« kommt (Eberhardt, 2020, S. 114). Elterliche Beziehungsbedürfnisse werden u. a. verletzt, weil man die »Beziehung, die das autistische Kind zu seiner Familie im Laufe der Zeit entwickelt, [...] am besten als einseitige Abhängigkeit bezeichnen« könnte (Rollett & Kastner-Koller, 2001, S. 51). In Bezug auf die Eltern kommt es dann zum Postulieren eines Verlustes an Lebensfreude, denn »für Familien mit einem autistischen Kind ist es wichtig, sich wieder am Leben freuen zu lernen« (ebd., S. 51).

Besonders die Zeit vor und nach dem Stellen der Autismus-Diagnose wird häufig als Lebenseinschnitt beschrieben: »Das Leben findet nach einer schwierigen, manchmal traurigen, konflikthaften und mitunter auch trostlos erscheinenden Phase seine Normalität wieder« (Schirmer & Alexander, 2015, S. 10). Diese neue Normalität beinhaltet aber auch, dass die »Lebenspläne der Eltern [...] der Realität des Zusammenlebens mit einem Heranwachsenden im Autismus-Spektrum angepasst werden« müssen (Schirmer, 2022, S. 54).

Spezielle Vorgehen wie bspw. Strukturierungshilfen sind nicht nur in außerhäuslichen Umgebungen wie Kindertagesstätte oder Schule notwendig, sondern auch in Familien hilfreich, »um Irritationen zu vermeiden, Abläufe zu vereinfachen und Orientierung zu bieten, um ein konfliktfreieres Miteinander zu erleben [...]« (Walter, 2020, S. 247). Das autistische Kind wiederum möchte wie folgt von den Eltern behandelt werden: »mit klaren Strukturen, klaren Gesetzen und Regeln – und selbstverständlich alles schriftlich-verbindlich, nachvollziehbar und nicht willkürlich« (Girsberger, 2022, S.15). Insbesondere Mütter autistischer Kinder pendeln oft zwischen »Erklärung und Rechtfertigung, Trauer und Verzweiflung, immer neuen Herausforderungen durch die wechselnden Anforderungen« (Preißmann, 2015, S. 112).

Diese Ausführungen werfen die Frage auf, ob Familienbande – also ein besonderer Zusammenhalt von Familienmitgliedern – unter den geschilderten Bedingungen überhaupt möglich sind.

In den vergangenen fünfzehn Jahren haben sich einerseits immer mehr autistische Menschen zu Wort gemeldet und entscheidend zum besseren Verständnis des Phänomens Autismus beigetragen. Die Beziehungen zu ihren Familienmitgliedern werden hierbei entweder als schwierig beschrieben oder es wird von verständnisvollen Eltern berichtet, ohne jedoch darauf einzugehen, ob und – wenn ja – wie ein familiärer Zusammenhalt daraus resultiert‍(e). Andererseits besteht die Tendenz, dass sich Berichte von Eltern autistischer Kinder zunehmend in den Hintergrund gedrängt finden. Diese Berichte lassen allerdings meist ebenso eine multidirektionale Betrachtung des Familiengeschehens vermissen.

In den letzten zehn Jahren hatte ich während meiner Veranstaltungen, bei Elterntreffen und bei der Begleitung von Familien mit einem autistischen Kind reichlich Gelegenheit, Einblicke in das Denken und Fühlen von Eltern zu erlangen. Eltern eines autistischen Kindes nehmen sich immer mehr in eine passive Rolle gedrängt wahr – eine Rolle, bei der ihnen die Umwelt entscheidende Kompetenzen abspricht. Sie haben immer öfter das Gefühl, sowohl von wenigen Fachpersonen als auch von einigen autistischen Menschen gelegentlich rigide wirkende Anweisungen zum Handeln anstatt Hilfen zur Entscheidung zu erhalten. Es findet dabei nicht selten eine Einmischung in Familienangelegenheiten statt, die wohl bei kaum einer anderen Behinderung so anzutreffen ist. Damit wird das autistische Kind von außen zu Unrecht in die Rolle des von Carl H. Delacato beschriebenen unheimlichen Fremdlings (Delacato, 1985) gedrängt – ein unheimlicher Fremdling, der bspw. in Person des sechsjährigen Bob in das Arbeitszimmer des Autors tritt, »gefolgt von seinen traurig blickenden Eltern« (ebd., S. 23).

Die eben geschilderten Tendenzen erwecken den Anschein, dass ein autistisches Kind automatisch zu einer Spaltung der Familie führt, dass es nur fordert – Kräfte, Nerven, finanzielle Mittel, Zeit –, aber nichts oder wenig einbringt, dass beiderseitiges Verständnis und gegenseitige Bereicherung nur Wunschträume sind. Der Anschein trügt.

Familienbande sind ebenso mit einem autistischen Kind in der Familie möglich. Es bedarf hierzu anderer Strukturen als in Familien ohne ein solches Kind und es gibt andere äußerlich wahrnehmbare Signale, die auf einen derartigen Zusammenhalt hindeuten, wie das eingangs zitierte Beispiel des Rabensohns verdeutlicht.

Das erste Kapitel beinhaltet einführende Gedanken zu den Themen Familie, familiärer Zusammenhalt und Auswirkungen von Belastungssituationen auf die Familie. Hintergrundinformationen zum Thema Autismus ergänzen dies.

1.1 Autismus – eine kurze Einführung6


Autismus ist medizinisch betrachtet eine tief greifende oder neuronale Entwicklungsstörung (nach ICD-10 bzw. ICD-11). Das Erscheinungsbild dieser Entwicklungsstörung ist geprägt durch Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Kommunikation sowie der sozialen Interaktion und durch repetitive Handlungen oder Interessen. Häufige Formen des Autismus sind der frühkindliche Autismus und das Asperger-Syndrom, wobei sich das Asperger-Syndrom dadurch auszeichnet, dass die sprachliche Entwicklung altersgerecht verläuft und die kognitive Entwicklung nicht eingeschränkt ist. Der frühkindliche Autismus ist gekennzeichnet durch eine ausbleibende oder verzögerte Sprachentwicklung. Eine häufige Begleiterscheinung (komorbide Störung) beim frühkindlichen Autismus ist die Störung der kognitiven Entwicklung. Wenn die kognitive Entwicklung bei dieser Form des Autismus nur wenig oder nicht beeinträchtigt ist, wird von High-Functioning-Autismus gesprochen.

Als Erstbeschreiber des Phänomens gelten Leo Kanner (1943, frühkindlicher Autismus) und Hans Asperger (1944, autistische Psychopathen im Kindesalter). Das von Hans Asperger beschriebene Störungsbild wurde in den 1980er-Jahren als Asperger-Syndrom benannt. Frühere Beschreibungen von autistischen Kindern existieren von Grunja E. Scucharewa und Ida Frye (vgl. Maus, 2020, S. 18 f.).

Die Einteilung in einzelne Störungsbilder ist veraltet, da diese nicht eindeutig voneinander zu trennen sind. Daher hat sich inzwischen die Auffassung vom autistischen Spektrum durchgesetzt, sodass im Jahr 2022 die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (nach ICD-11) mit verschiedenen Schweregraden eingeführt wurde. Aktuell wird von einer Prävalenz von 1 % für die Autismus-Spektrum-Störung ausgegangen. Im außermedizinischen Bereich ist es für die Entwicklung eines autistischen Kindes und für das Zusammenleben einschließlich gemeinsamer Aktivitäten – auch in der Familie – förderlich, wenn Autismus nicht als Störung, sondern als besonderer Lernstil und als andere Form der Wahrnehmung begriffen wird.

Autismus ist...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-17-040372-9 / 3170403729
ISBN-13 978-3-17-040372-7 / 9783170403727
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