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Das Ende des Traumas -  George A. Bonanno

Das Ende des Traumas (eBook)

Wie das Wissen über Resilienz unser Traumaverständnis revolutioniert
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12267-1 (ISBN)
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»Eine neue, aufschlussreiche Perspektive auf Trauma« - Ein komplett neuer Ansatz basierend auf 30 Jahren Forschungsarbeit - Mit zahlreichen Fallgeschichten Wenn uns das Schlimmste widerfährt, was man sich vorstellen kann - gewalttätige oder lebensbedrohliche Ereignisse oder andere schwerwiegende Widrigkeiten - erwarten wir in der Regel, dass wir traumatisiert werden und wahrscheinlich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dies tatsächlich eintritt? Auf der Grundlage von drei Jahrzehnten Forschung und anhand zahlreicher Beispiele belegt George A. Bonanno eindrucksvoll seine These, dass die natürliche Reaktion auf traumatische Erfahrungen vielmehr Resilienz und nur in wenigen Fällen wirklich eine PTBS ist. Er zeigt, was uns widerstandsfähig macht, warum wir es manchmal nicht sind und wie wir zukünftig besser mit traumatischem Stress umgehen können. Ein Buch für alle, die das Thema Trauma aus einem neuen Blickwinkel betrachten möchten.

George A. Bonanno ist Professor für klinische Psychologie und Leiter des Loss, Trauma, and Emotion Lab am Teachers College der Columbia University in New York. Er gilt als bahnbrechender Forscher im Bereich Trauer, Trauma und Resilienz. 

George A. Bonanno ist Professor für klinische Psychologie und Leiter des Loss, Trauma, and Emotion Lab am Teacher's College der Columbia University in New York. Er gilt als bahnbrechender Forscher im Bereich Trauer, Trauma und Resilienz. 

Kapitel 1

Die Erfindung von PTBS


In der Hall of Human Origins des Naturgeschichtlichen Museums in New York befindet sich ein eindrucksvolles Diorama. Es ist riesig. Wenn es möglich wäre hineinzuklettern, könnte ein Mensch darin mühelos aufrecht stehen und herumwandern. Außerdem wirkt es unglaublich lebensecht.

Das Licht ist absichtlich gedämpft. Die Augen brauchen eine Zeit lang, um sich daran zu gewöhnen. Das Erste, was einem auffällt, ist, dass mindestens eine der Figuren in dem Schaukasten, diejenige, die sich am dichtesten am Glas befindet, ein menschenähnliches Aussehen hat. Sie wirkt wie ein kleiner urgeschichtlicher Vorfahre von uns. Die nackte Gestalt sitzt in der Hocke.

Das Diorama zeigt eine Szene aus dem Pleistozän, also aus einer Zeit vor etwa einer Million oder noch mehr Jahren. Bei der Figur handelt es sich um den Homo erectus. Er beugt sich über einen Bach, um etwas frisches Wasser aus der hohlen Hand zu trinken. Der behaarte, nackte Körper wirkt entspannt. Der Bach liegt in der Dämmerung, am Fuß eines Berges.

Wenn die Augen sich allmählich besser an das gedämpfte Licht gewöhnt haben, entdeckt man weitere Gestalten, darunter offenbar einige Tiere. Ein Rudel Hyänen. Sie spitzen aufmerksam die Ohren und schleichen sich von hinten an unseren Urahn heran. Betrachtet man eine der Hyänen genauer, erkennt man, dass sie eine geduckte Angriffshaltung eingenommen hat. Sie wirkt bedrohlich. Dann kommt die Silhouette einer zweiten Hyäne in den Blick. Sie ist noch viel, viel näher: Zusammengekauert, mit zurückgelegten Ohren und nach vorn gereckter Schnauze setzt sie gerade eindeutig zum Sprung an. Prähistorische Hyänen waren große, furchterregende Raubtiere. Unser Vorfahr hat offenbar überhaupt keine Ahnung, was auf ihn zukommt. Nichts deutet darauf hin, dass er eine Waffe besitzt. Er wirkt völlig entspannt und scheint sich keiner Gefahr bewusst zu sein. Erschrocken wird einem klar, dass ihn mit ziemlicher Sicherheit ein grausames Schicksal erwartet.

Und wenn es ihm doch irgendwie gelänge, den Angriff zu überleben? Hätte er unter Flashbacks gelitten? Unter beängstigenden Bildern von heranstürmenden Raubtieren? Von gefletschten Zähnen, Kampf, Flucht, Blut und Schmerz? Wäre er ständig von Gedanken an die Begegnung verfolgt worden? Hätte er unter quälenden Erinnerungen und Albträumen gelitten?

Wir werden es nie erfahren. Alles, was aus dem Pleistozän überliefert ist, sind versteinerte Knochen und andere archäologische Hinweise, die uns ermöglicht haben, einige Puzzleteile des damaligen Lebens zusammenzusetzen. Es gibt keine schriftlichen Überlieferungen. Keine Kunstwerke. Keine Aufzeichnungen über Gedanken oder Erfahrungen.

Erst wesentlich später, in einer Zeit, die nur etwa 40 000 Jahre zurückliegt, begann der Mensch erstmals, seine Erfahrungen in kleinen Statuen und Höhlenbildern darzustellen. Zu den häufigsten Motiven, die in diesen frühen Kunstwerken abgebildet wurden, gehörten Tiere, Jagdgruppen und Waffen. Damit brachten unsere Vorfahren zweifellos zum Ausdruck, was ihre vorherrschenden Beschäftigungen waren. Die Menschen waren verwundbar, und das Leben war gefährlich. Doch etwa zur selben Zeit fingen sie auch an, den Gefahren zu trotzen. Sie begannen, sich selbst zu verteidigen und ihre Überlebenschancen dadurch zu verbessern. Die Beute verwandelte sich allmählich in das Raubtier.

Doch gab es psychische Traumata? Jagen und Waffen bedeuten Gefahr. Das ist klar. Nur wie bringt man Traumata in einem Höhlenbild zum Ausdruck? Wir können Waffen und eine Jagd oder einen Angriff in einer Zeichnung darstellen. Trauma indes ist eine psychische Reaktion, die sich am leichtesten in Worten wiedergeben lässt. Und das bedeutet, dass wir noch weiter an unsere heutige Zeit heranrücken müssen. Erst vor etwa fünftausend Jahren setzte die Entwicklung der Schriftsprachen ein. Von daher könnte man vielleicht erwarten, irgendeine Form von anhaltendem psychischem Trauma habe jetzt erstmals Erwähnung gefunden. Wenn nicht genau vor fünftausend Jahren, dann vielleicht bald darauf.

Doch wenn wir auf dieses schriftliche Vermächtnis, auf etwa fünftausend Jahre aufgezeichneter Sprache blicken, stellen wir etwas wirklich Bemerkenswertes fest: Das Konzept des psychischen Traumas scheint eine überraschend moderne Idee zu sein.

Die Zeit vor dem Trauma


Zu den frühesten schriftlichen Texten, in denen wir eine Erwähnung psychischer Traumata erwarten würden, gehört zweifellos Homers episches Gedicht über den Trojanischen Krieg, die Ilias. Das Epos entwickelte sich wahrscheinlich über lange Zeit durch mündliche Überlieferung.[1] Schließlich wurde es dann schriftlich niedergelegt, wahrscheinlich erstmals um etwa 1000 v. Chr. Auch wenn ein Großteil der Geschichte aus Mythen besteht, basiert das Epos doch auch auf den Einzelheiten eines tatsächlichen Krieges zwischen den Mykenern und den Hethitern, besser bekannt als »Trojaner«, der viele Jahrhunderte zuvor stattgefunden hatte. Dabei hat Homer in seiner Ilias quasi nichts ausgespart. Die Kampfszenen werden in allen blutigen Details geschildert. Krieger werden verwundet, verstümmelt und getötet. Und in den beschreibenden Darstellungen geht der Autor ausführlich auf Angst, Qual, Schmerz und Mut ein. Beide Seiten erlitten vernichtende Verluste. Sie weinten bittere Tränen. Sie klagten und stöhnten. Und trotz der Tatsache, dass sich beide Parteien in unmittelbarer Nähe zueinander aufhielten, machten die Soldaten keinerlei Versuch, ihr Leid und ihre Trauer zu verbergen.

Der Psychiater Jonathan Shay stellte fest, dass diese Beschreibungen erstaunliche Ähnlichkeiten mit Berichten über »toxische Kampferfahrungen« aufweisen, die er von zeitgenössischen Soldaten im Vietnamkrieg gehört hatte.[2] Wie Shay ausführt, verlieh Homer dem angenommenen emotionalen Trauma, unter dem die Griechen und Trojaner nach dem Ende des Krieges möglicherweise litten, dennoch keine Stimme.[3] Der Trauer dagegen schon. Es gibt zahlreiche Schilderungen der tiefen Trauer, die die Krieger wegen ihrer gefallenen Kameraden empfanden, oder des Kummers von Freunden und Familienangehörigen über den Verlust ihrer Liebsten. Doch traumatische Reaktionen nach dem Krieg wie albtraumhafte oder intrusive Flashbacks werden mit keinem Wort erwähnt.

Uns liegen zahlreiche weitere historische Berichte vor, die ebenfalls erschütternde Ereignisse beschreiben, die wir heute, ohne zu zögern, als traumatisch bezeichnen würden. Doch auch hier gilt, dass in diesen Darstellungen die Begriffe »Trauma« oder »traumatisch« nicht zu finden sind. Auch werden keine der Symptome beschrieben, die wir heute mit PTBS verbinden. Die Vorstellung, ein gefährliches und furchterregendes Ereignis könnte dauerhafte psychische Probleme verursachen, kommt in der aufgezeichneten Geschichte buchstäblich nicht vor, sondern taucht erst vor relativ kurzer Zeit auf.

Nur sehr wenige geschichtliche Darstellungen enthalten Hinweise auf etwas, das auch nur entfernte Ähnlichkeiten mit einem anhaltenden psychologischen Trauma hat. Einer der berühmtesten und möglicherweise der erste jemals schriftlich festgehaltene Text in diese Richtung ist eine Szene aus Shakespeares Heinrich IV., entstanden irgendwann im späten 16. Jahrhundert. In einem kurzen Abschnitt macht sich die Königin, Lady Percy, Sorgen um die sich verschlechternde psychische Verfassung des Königs, der offenbar kriegsbedingt unter Albträumen und Zwangsvorstellungen leidet. Ob diese Probleme die Kriterien echter PTBS-Symptome erfüllen, ist schwer zu sagen. Abgesehen von dieser kurzen Passage erwähnen weder Lady Percy noch der König das Thema je wieder.

Etwas eindeutiger ist ein in der Ich-Form geschriebener Bericht, der im 17. Jahrhundert in den Tagebüchern des britischen Aristokraten Samuel Pepys (ausgesprochen Pieps) auftauchte. Pepys war ein Intellektueller, ein Vertrauter von König Charles II. und ein Freund von Isaac Newton. Er führte ein bemerkenswertes Leben, baute eine riesige Bibliothek auf und vollbrachte auch darüber hinaus viele eindrucksvolle Leistungen. In Erinnerung geblieben ist er allerdings hauptsächlich wegen seiner Tagebücher. Zehn ereignisreiche Jahre lang hielt Pepys gewissenhaft seine Gedanken und Aktivitäten, Beobachtungen über seine Freunde, den Königshof und Alltagsereignisse fest und bewahrte die Aufzeichnungen sorgfältig auf.

Dass in Pepys Tagebüchern möglicherweise Traumareaktionen erwähnt werden, während andere Quellen sich über dieses Thema ausschweigen, ist wahrscheinlich kein Zufall. Pepys machte seine Aufzeichnungen nicht öffentlich bekannt. Er verfasste seine Erinnerungen in altertümlichem Englisch, benutzte eine Geheimschrift und hat die Tagebücher, soweit man weiß, zu seinen Lebzeiten nie herumgereicht. Nach seinem Tod wurde seine große Büchersammlung zusammen mit den Tagebüchern der Cambridge University gestiftet. Dort blieben sie über ein Jahrhundert lang unbeachtet und offenbar auch unberührt, bis sie schließlich wiederentdeckt, entschlüsselt und veröffentlicht wurden.

Eine der bedeutendsten Passagen aus Pepys Tagebüchern beschreibt das große Feuer, das 1666 in London wütete. Pepys wurde mitten in der Nacht wach und entdeckte in einiger Entfernung den Lichtschein eines Feuers, doch er...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2024
Übersetzer Maren Klostermann
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Resilienz • Resilienzforschung • Trauma • Traumatherapie • Traumatisierung
ISBN-10 3-608-12267-2 / 3608122672
ISBN-13 978-3-608-12267-1 / 9783608122671
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