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Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung (eBook)

Ein interdisziplinäres Handbuch

Axel Kuhn, Ute Schneider (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023
632 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-074513-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung -
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Axel Kuhn, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Ute Schneider, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

I  Buchforschung


Theoretische Perspektiven und Gegenstände


Axel Kuhn
Ute Schneider

1 Problemstellung


Theoretische Perspektiven auf bestimmte Gegenstände sind immer dann notwendig, wenn beobachtbare Phänomene so komplex werden, dass sie über alltägliche Sprache nicht mehr im Detail und ihren Zusammenhängen dargestellt oder erklärt werden können. Hierzu bilden sie deren empirische Wirklichkeit abstrahiert und konsistent als formal-sprachliche Modelle aus Begriffen und Beziehungen ab, um diese übergreifend und vergleichbar zu erfassen und allgemein gültige Erklärungen zu erzeugen. Komplexe Begriffe und Sprachkonstruktionen (‚Eigenkomplexität‘) werden dabei zu Werkzeugen von Erkenntnishorizonten, denn zu starke Vereinfachungen führen nur zu oberflächlichen Erkenntnissen, z. B. dass Lesen wichtig oder ‚das‘ Buch kulturell wertvoll ist. Ein Handbuch zu theoretischen Perspektiven verweist somit auf jenen Teilbereich der Buchforschung, der sich mit ihren theoretischen, modellbildenden Fragestellungen beschäftigt und diskutiert hierzu Begriffe, Modelle und Paradigmen. Gleichzeitig konturiert und systematisiert dieses Handbuch damit auch die (abstrahierten) Gegenstände der Buchforschung in ihren relationalen Beziehungen, bietet aber keine eigenen Analysen der mit ihnen verknüpften empirischen Phänomene (Balzer und Brendel 2019: 3).

Buchforschung ist dabei mitnichten durch ‚das Buch‘ als Ding oder Medium bestimmt, sondern durch all jene geschichts- oder gegenwartsbezogenen Fragen, Phänomene und Beobachtungen, die im Zusammenhang mit einem weiten Buchbegriff bzw. einer literalen Kultur (siehe Abschnitte 3.1 und 4.1) als erklärungsbedürftig oder problematisch wahrgenommen und als Gegenstände der Forschung ausgewählt wurden und werden. Da diese wiederum nicht so ideell isoliert und distinktiv sind, als dass eine wissenschaftliche Disziplin sie allein ihr Eigen nennen kann (allgemein zur Unmöglichkeit disziplinärer Gegenstandsabgrenzung Bourdieu 1975: 32), bietet sich der offene Begriff der Buchforschung an, der es ermöglicht, alle an sie angrenzenden Formulierungen von Gegenständen als Teilbereiche unterzuordnen und damit auch disziplinär unabhängig zu definieren (Finger 1987: 591).

Theoretische Perspektiven und Gegenstandsbereiche bestimmen in ihren jeweiligen historischen Ausprägungen zusammen nicht nur die Art und Aussagekraft der in der Buchforschung erhobenen empirischen Daten, sondern vor allem ihre Interpretationen in den alltäglichen Forschungs- und Lehrpraktiken verschiedener Disziplinen sowie der Buchwissenschaft selbst (zu letzterer siehe Abschnitte 2.4 und 4.2). Sie können in ihrer Entwicklung selbst theoretisch über Wissenschaftstheorie und -geschichte modelliert werden: Während erstere hilft, Buchforschung in ihren Voraussetzungen und Erkenntnisformen abstrakt zu beschreiben und ihre Abhängigkeiten zu verstehen, hilft zweitere insbesondere beim Verständnis der Entwicklung von akzeptierten Theorien und Gegenständen unter dem Einfluss historischer Normen, Diskurse, Strukturen und der daraus folgenden Wissensproduktion.

Die für dieses Handbuch und seine Konzeption von Buchforschung wesentlichen wissenschaftstheoretischen Paradigmen entstanden spätestens mit der von der Soziologie ausgehenden konstruktivistischen Wende der 1960er und 1970er Jahre zum konstruktiven (statt ‚wahrem‘) Charakter von Erkenntnis. Bereits Émile Durkheim hatte früh begründet dargestellt, dass jegliche Wahrnehmung von Raum, Zeit oder Kausalität sozialen Einflüssen unterliegt und sich daher nur abhängig von vorherrschenden sozialen Strukturen vollziehen kann. Ludwik Fleck (1980 [1935]: 146-189) stellte unter dieser Prämisse die positivistische und realistische Betrachtung der linearen Erkenntniserweiterung bereits 1935 in Frage, als er Denkstile und Denkkollektive als wesentliche Einflussfaktoren der wissenschaftlichen Genese von Erkenntnissen untersuchte. Er kam zum Schluss, dass wissenschaftliche Gemeinschaften und ihre spezifischen Strukturen bestimmte wissenschaftliche Perspektiven hervorbringen, welche Erkenntnisformen ermöglichen, einschränken oder verhindern können. Auch die bekannteren soziologischen Betrachtungen des Wissenschaftsbetriebs unter dem Einfluss institutioneller Voraussetzungen von Robert K. Merton (1973 [1942]) bestätigten, dass wissenschaftliche Erkenntnisse davon abhängen, wie bestimmte Disziplinen in soziale Ordnungen eingebettet sind. Pierre Bourdieu (1975: 19) stellt in diesen Zusammenhängen letztlich fest, dass konkrete Forschungspraktiken immer ein Produkt ihrer Umwelt und der jeweils geltenden Strukturen, Funktionsweisen und Machtverteilungen der Wissenschaft sind. Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung sind somit soziale Konstruktionen und daher weder universell wahr noch zeitlos relevant.

Daraus folgt weiterhin, dass theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung stets historische Konstruktionen sind, die nur für bestimmte Zeiträume beschrieben werden und von Diskontinuitäten geprägt sein können. Die diachrone Wissenschaftsphilosophie (bzw. der konsequente Historismus) von Thomas S. Kuhn (1988), die den lange vorherrschenden logischen Empirismus von Karl Popper (2007 [1934]) ablöste, wird somit zur Grundlage jedweder Bestandsaufnahme und Analyse der Buchforschung: Nach Kuhn sind theoretische und methodische Perspektiven bestimmter Wissenschaften immer nur in ihren historischen Dimensionen zu verstehen (Historisierung), und somit über die Rekonstruktion ihrer jeweilig spezifischen Wissenschaftsgeschichte. Die Entwicklung von Forschungsfeldern und -programmen sowie wissenschaftlichen Disziplinen folgen hierbei einem zyklischen Phasenmodell, in dem normale Phasen durch Anomalien herausgefordert werden und sich dann verändern oder aufhören zu existieren. Buchforschung lässt sich deshalb nicht als evolutionäre Erweiterung ihrer Erkenntnisse beschreiben, sondern nur als ständige Reformulierung ihrer Wissensbestände und Erkenntnisziele (Hoyningen-Huene und Lohse 2012: 74), die über Selektionen von Gegenständen und theoretischen Perspektiven konturiert werden. Buchforschung unterliegt daher generationalen Perspektiven genauso wie temporären Moden: In bestimmten Zeitspannen sind bestimmte Annahmen, Gegenstände, theoretische Perspektiven und Methoden maßgeblich für ihre Leistungen. Zusammen mit allgemeinen wissenschaftlichen Normen bilden sie grundlegende zeithistorische Paradigmen, z. B. in Form begrenzter Symbolsysteme des Buchs (‚Bücher sind immer Artefakte‘), der eingeschränkten Modellierung ihres Gegenstands (‚Buch = Kodex‘), einflussreicher Werthaltungen zu ihrem Gegenstand (‚Das Buch ist ein Kulturgut‘) oder typischer und nicht hinterfragter Grundlagen (‚Produktion, Distribution und Rezeption bilden die Wertschöpfungskette des Buchhandels‘), auch wenn diese nicht (mehr) die empirische Realität erfassen. Zusammen bestimmen Paradigmen jedoch, was in bestimmten Zeitspannen im Zusammenhang mit Büchern zu untersuchen ist und wie dies zu erfolgen hat. Dieses Handbuch ist somit allein durch seine Existenz und die Beschreibung der Gegenstände und Perspektiven Teil der Konstruktion der gerade aktuellen und akzeptierten Buchforschung.

2 Geschichte der Buchforschung


Buchforschung in ihren theoretischen Perspektiven und Gegenständen ist mit diesen Prämissen das Ergebnis ihrer historischen Entwicklung und Institutionalisierung im Wissenschaftssystem, welche unterschiedliche Forschungspraktiken hervorgebracht hat und bringt. Eine wissenschaftssoziologisch bzw. wissenschaftstheoretisch fundierte historische Analyse der Buchforschung mit ihren relevanten Akteuren, Praktiken und Machtstrukturen steht nach wie vor aus, chronologische Überblicksdarstellungen ihrer Wissenschaftsgeschichte finden sich bei Rautenberg (2010) und Füssel (2014b). Im Folgenden wird darauf aufbauend ein Überblick über verschiedene historische Phasen der Buchforschung gegeben, immer im Hinblick auf dort relevante theoretische Perspektiven und Gegenstände.

2.1 Von der Bücherkenntnis zur Buchkunde

Betrachtet man Buchforschung in der Entwicklung der Wissensgesellschaft (zu Konzept und Kritik Böschen 2017), ist sie in der Frühen Neuzeit durch die Etablierung als eigenständige wissenschaftliche Wertsphäre mit autonomen (religiös und politisch unabhängigen) Referenzprinzipien, zum Beispiel allgemein akzeptierte Theorien und abgeschlossene wissenschaftliche Leistungen, zur...

Erscheint lt. Verlag 4.10.2023
Reihe/Serie De Gruyter Reference
Zusatzinfo 60 b/w and 15 col. ill.
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Sozialwissenschaften Kommunikation / Medien Buchhandel / Bibliothekswesen
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-11-074513-5 / 3110745135
ISBN-13 978-3-11-074513-9 / 9783110745139
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