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Das Wohl des Kindes bei Trennung und Scheidung -  Liselotte Staub

Das Wohl des Kindes bei Trennung und Scheidung (eBook)

Grundlagen für die Praxis der Betreuungsregelung
eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
344 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-76248-7 (ISBN)
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Festlegung der Betreuungsanteile und der Eltern-Kind-Kontakte nach der Trennung der Eltern Welche Betreuungsform dem Kindeswohl im Einzelfall am besten entspricht, ist keine rechtliche Fragestellung. Für die Entscheidungsbehörden stellt daher im Konfliktfall die Bestimmung des umstrittenen Kindeswohls eine besondere Herausforderung dar. Ob beispielsweise eine geteilte Obhut gegen den Willen eines Elternteils dem Kindeswohl entspricht, lassen Entscheidungsbehörden zunehmend von psychologischen Sachverständigen beantworten. Gutachten sind aber nicht nur teuer, sondern auch belastend für alle Beteiligten. Mit diesem Buch soll ein Beitrag zur Entscheidungsbefähigung von Fachpersonen in entsprechenden Behörden geleistet werden. Diesen Fachleuten eröffnet es die Möglichkeit, sich über die wesentlichen Aspekte, Kriterien und deren Wechselwirkungen zu informieren und diese Aspekte angemessen zu gewichten, um schließlich zu einer Entscheidung zu gelangen. Darüber hinaus richtet sich das Buch an Gutachter*innen und an Psychotherapeut*innen, welche im Rahmen ihrer Tätigkeit mit getrennten Eltern und deren Kindern arbeiten. In die vorliegende zweite, überarbeitete Auflage wurden neue Erkenntnisse und Erfahrungen der praktisch tätigen Autorin seit Erscheinen der ersten Auflage übernommen. So wird u.a. die Elternpersönlichkeit verstärkt gewichtet und die Beurteilung der Qualität eines Gutachtens erweitert diskutiert.

|23|1  Von der Loyalität zum Loyalitätskonflikt


Fallbeispiel

Die beiden berufstätigen Eltern betreuten den 8-jährigen Jan etwa zu gleichen Teilen selber, bis die Mutter den Vater nach einer heftigen Auseinandersetzung wegen einer Außenbeziehung des Vaters aus der gemeinsamen Wohnung wies und mit Jan zurückblieb. Von nun an kämpften beide Eltern erbittert um die Obhut über Jan. Eine alternierende Obhut kam für die Mutter nicht in Frage. Beim Versuch, Jan auf ihre Seite zu ziehen, machten die Eltern den je anderen Elternteil schlecht. Einerseits unterstützte Jan seinen Vater, indem er in dessen Klagen über die Mutter einstimmte, andererseits berichtete der Junge der Mutter nach den Kontakten mit dem Vater nur Negatives über den Vater. Wie das Kind seine Eltern wahrnahm, führte zu zusätzlichen Konflikten zwischen den Eltern, die Jan immer eins zu eins mitbekam. Zunehmend kamen Klagen von der Schule, dass Jans Leistungen nachließen und er oft in Schlägereien verwickelt sei.

Dieses Beispiel verdeutlicht die Loyalitätsbemühungen des Kindes und den daraus resultierenden Konflikt. Der Loyalitätskonflikt ist ein scheidungs- bzw. trennungsinhärenter Belastungsfaktor für das Kind und gehört unausweichlich zur elterlichen Trennung dazu. Der Loyalitätskonflikt zählt zu den bedeutsamsten Stressfaktoren, mit denen ein Kind bei der Trennung seiner Eltern konfrontiert ist. Die Auswirkung des Loyalitätskonflikts manifestiert sich insbesondere in Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten zwischen dem Kind und seinen getrennten Eltern. Loyalitätskonflikte sind oft auch dann der Motor, wenn sich Kinder gerecht auf Mutter und Vater verteilen wollen, um ihre streitenden und bedürftigen Eltern zufriedenzustellen. Weil das Fühlen, das Verhalten und der Willensausdruck des Kindes im Loyalitätskonflikt immer darauf ausgerichtet ist, diesen unangenehmen Zustand auszuhalten oder aufzulösen, kann man generell davon ausgehen, dass sich die meisten Umgangs- und Kontaktschwierigkeiten des Kindes vom Loyalitätskonflikt her erklären lassen. In Abhängigkeit von bestimmten Faktoren unterscheiden sich Loyalitätskonflikte im Ausprägungsgrad und Bewältigungsmuster. Diese Tatsache rechtfertigt eine eingehende Betrachtung des Phänomens.

|24|1.1  Grundlage der Loyalität


Was genau ist Loyalität, wie entsteht sie und wie mutiert sie zum Konflikt?

Etymologisch stammt das Wort „loyal“ vom französischen loi, „Gesetz“, und bedeutet gesetzestreu, redlich, anständig. Im familiendynamischen Ansatz des Begründers und Pioniers der Familientherapie, Ivan Boszormenyi-Nagy, wird Loyalität als ein Zusammenwirken von Begegnung und Gerechtigkeit verstanden. Während Begegnung als grundlegendes und konstituierendes Element von Menschsein betrachtet wird, gilt Gerechtigkeit als existentielle Gegebenheit eines Ordnungsprinzips menschlicher Beziehungen.

Vor dem Hintergrund der begründeten Annahme, dass das Streben nach Gerechtigkeit ein primäres Handlungsbedürfnis des Menschen ist, entwarf Boszormenyi-Nagy 1973 eine psychologische Theorie, in der gegenseitige Verpflichtungen, Erwartungen und Ausgleichsbedürfnisse zwischen Familienmitgliedern zu wesentlichen bewussten und unbewussten Verhaltensmotiven werden. Die treibende Kraft erkannten Boszormenyi-Nagy und Spark (1981) in der Loyalität, welche so lange unsichtbar bleibt, wie das Individuum nicht genötigt wird, Position zwischen zwei Menschen oder zwei Gruppen zu beziehen.

Boszormenyi-Nagy betont die vertikale Loyalität unter Blutsverwandten inklusive Adoptivkindern und unterscheidet diese von der horizontalen Loyalität bei Herzensbeziehungen, zum Beispiel Freundschaften. Er geht davon aus, dass allen menschlichen Individuen in den Beziehungen zu ihren Angehörigen ein angeborenes Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit innewohnt. Jedes Sein entwickelt sich psychisch in einer Intersubjektivität, der Kind-Eltern-Beziehung. Aufgrund seiner frühen Geburt und der damit einhergehenden biologischen und psychologischen Unreife ist das Menschenkind auf seine Eltern bzw. primären Bezugspersonen angewiesen und muss deren Erwartungen erfüllen, um überleben zu können.

Die bedingungslose Bereitschaft zur Fürsorge beziehen die Eltern aus ihrem wieder auflebenden primären Narzissmus1, welcher sich in Liebe zum Kind verwandelt: Die Eltern sehen im Kind sich selber. Diese Wiederbelebung des primären Narzissmus mit der Elternschaft ist ein inhärenter Bestandteil der menschlichen Entwicklung und offenbart sich beispielsweise in Fällen, in denen Eltern ihr zur Adoption freigegebenes Kind nie kennengelernt haben, sich aber mit diesem Kind lebenslänglich verbunden fühlen und große Anstrengungen unternehmen, um Kontakt zu diesem herzustellen. Das Gegen|25|stück dazu ist die narzisstische Kränkung eines Vaters, der erfährt, dass er nicht der biologische Vater des Kindes ist, in welches er investiert hat, und sich aufgrund dieser Kränkung von diesem Kind zurückzieht (vgl. Klosinski, 2007).

Gründend auf dieser Theorie definiert Ducommun-Nagy (2012) fünf Dimensionen bzw. Bestimmungen von Loyalität innerhalb der Familie:

Die ethische Bestimmung bezieht sich auf die Verpflichtungskomponente von Loyalität. Diese ist zunächst an unser Pflichtbewusstsein und unseren Sinn für Fairness und Gerechtigkeit gebunden. Im Gegenzug für ihre Verfügbarkeit zugunsten der Kinder erwarten die Eltern von diesen Loyalität. Diese Loyalität beherrscht die Beziehung und wird auf die Kinder übertragen. Ob dieser Prozess genetisch angelegt ist, unbewusst tradiert wird oder das Resultat von Erziehung ist, bleibt offen.

Fazit: Die Verletzung dieser Dimension geht mit einer ethischen Zuwiderhandlung einher und erzeugt beim Individuum Angst, verstoßen zu werden.

Die psychologische Bestimmung von Loyalität bezieht sich auf den Verlustschmerz, der fast alle Eltern erfasst, wenn die Kinder autonom werden und von zuhause ausziehen. Im überwiegend unbewussten Wissen um den Verlustschmerz der Eltern geht die Autonomieentwicklung auf Seiten der Kinder mit mehr oder weniger Schuldgefühlen einher. Um diese Schuldgefühle abzuwenden, kommt es vor, dass Kinder auf die Verwirklichung ihrer persönlichen Projekte verzichten oder mit den Eltern einen unbewussten Ausgleichshandel eingehen. Beispielsweise kann ein Sohn seine Selbständigkeit nur schuldlos verwirklichen, indem er den Eltern einmal in der Woche seine Schmutzwäsche bringt, sie also besucht. Dass es sich dabei um einen unbewussten Prozess handelt, der mit der äußeren Realität nichts zu tun hat, zeigt sich daran, dass viele Eltern, welche unter einem ausgeprägten Verlusterleben leiden, die Autonomieentwicklung ihrer Kinder stets als oberstes Erziehungsziel auf ihrer Agenda hatten und diese Entwicklung auch förderten und unterstützten.

Fazit: Die Verletzung der psychologischen Bestimmung der Loyalität wird als Ungerechtigkeit empfunden und erzeugt beim „Täter“ Schuld- und Schamgefühle.

Die systemische Bestimmung erkennt in der Loyalität ein primäres Ordnungsprinzip, welches die Homöostase der Familie aufrechterhält. Loyalität ist der emotionale Leim, welcher das Weiterbestehen der Familie über die Zeit hinweg garantiert und in der bedingungslosen Akzeptanz von Familienmitgliedern zum Ausdruck kommt. Die Familie ist in ihrem Fortbestehen auf die Loyalität ihrer Mitglieder angewiesen und bestraft die Deserteure. Vom systemischen Standpunkt aus betrachtet, sichert die Loyalität, dass die Kinder die Erwartungen der Eltern erfüllen, um Repressalien zu verhindern.

Fazit: Die Verletzung dieser Dimension geht mit Angst vor Bestrafung einher.

|26|Die faktische Bestimmung von...

Erscheint lt. Verlag 10.7.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-456-76248-8 / 3456762488
ISBN-13 978-3-456-76248-7 / 9783456762487
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