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Prozessbasierte Psychotherapie (eBook)

Individuelle Störungsdynamiken verstehen und verändern
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
251 Seiten
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
978-3-8444-3071-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Prozessbasierte Psychotherapie -  Michael Svitak,  Stefan G. Hofmann
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Psychische Störungen weisen häufig eine Komplexität und Dynamik auf, die in diagnoseorientierten Behandlungsansätzen vernachlässigt werden. Hier kommt der in diesem Buch vorgestellte prozessbasierte Ansatz ins Spiel. Er geht davon aus, dass psychische Störungen aus einem individuellen Wechselspiel von Kernprozessen auf kognitiver, emotionaler, behavioraler, physiologischer und sozialer Ebene entstehen und aufrechterhalten werden. Eine solche Betrachtung auf Prozessebene ermöglicht ein tieferes Verständnis für die Individualität, Komplexität und Dynamik seelischer Erkrankungen und bietet Ansatzpunkte für die Therapie. Der erste Teil des Bandes gibt eine fundierte und praxisnahe Einführung in die theoretischen Grundlagen des prozessbasierten Ansatzes. Die Autoren erläutern, wie Wechselwirkungen von individuellen und transdiagnostisch wirksamen Prozessen ein stabiles Netzwerk bilden, welches bei den Betroffenen psychisches Leid verursacht, und zeigen auf, wie solche Zustände überwunden werden können. Im zweiten Teil wird dargestellt, wie sich der prozessbasierte Ansatz in der Praxis umsetzen lässt. Dabei wird u.a. auf die Diagnostik relevanter Prozesse, die Erstellung eines individuellen, prozessbasierten Netzwerkmodells sowie die Auswahl geeigneter evidenzbasierter Interventionen eingegangen. Fallbeispiele veranschaulichen das therapeutische Vorgehen. Der Band liefert wertvolle Anregungen für psychotherapeutische Fachpersonen, die die Therapie mit ihren Klientinnen und Klienten individueller und effektiver gestalten wollen. Die im Buch enthaltenen Arbeitsmaterialien können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.

|17|2  Grenzen der diagnoseorientierten Psychotherapie


2.1  Unzureichende Konzeptualisierung psychischer Störungen


Wozu sich mit psychischen Prozessen beschäftigen? Reicht es nicht, die Diagnose zu kennen und die richtige evidenzbasierte Therapie auszuwählen? In der somatischen Medizin klappt das doch auch. Das stimmt. Mit der Etablierung der Psychotherapie im Gesundheitswesen wurden zunehmend Paradigmen der somatischen Medizin auf die Entstehung von psychischen Problemen übertragen. Nach dem Krankheitskonzept der somatischen Medizin sollte es möglich sein, „Krankheiten“ anhand von Symptomen zu identifizieren, die sich im Hinblick auf Ätiologie, Verlauf und Ansprechbarkeit auf Behandlungen unterscheiden. Dieses Modell verspricht eine deutliche Vereinfachung der Therapie und ermöglicht es, dass Therapeutinnen auch ohne individuelles Prozessverständnis eine wirksame Behandlung anbieten können. Ähnlich dem Vorgehen in der somatischen Medizin wird aus der Diagnose eine vorgeschriebene Behandlung abgeleitet. Diese ist für alle Patienten nahezu standardisiert. Ziel dieser Herangehensweise ist es, dass Behandlungen störungsspezifisch, manualisiert, evidenzbasiert und leitliniengerecht angeboten werden können. Die damit verbundene Hoffnung bestand darin, dass man für jede abgrenzbare psychische Krankheit nach einem vorgeschriebenen Maßnahmenkatalog behandelt und so die Behandlung vereinfacht und verbessert (Hofmann et al., 2016). Als Ergebnis dieser Entwicklung weist das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (derzeitige Fassung: DSM-5; American Psychiatric Association, 2013) inzwischen etwa 350 Erkrankungen auf, für die über 270 Behandlungsmanuale existieren, deren Wirksamkeit durch Outcome-Studien mehr oder weniger gut belegt ist (Hofmann & Hayes, 2018). In vielen Studien ließen sich so die Wirksamkeit und Überlegenheit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ansätze gegenüber anderen Verfahren belegen (Heidenreich & Michalak, 2013).

Im Lehrbuch oder in den Leitlinien klingt Psychotherapie dadurch einfach. Eine Depression lässt sich durch das Abfragen von neun Symptomen mithilfe einer Checkliste feststellen. Wenn mindestens fünf der neun Symptome berichtet wer|18|den, kann der Patient die Diagnose erhalten. Aber bildet das die psychotherapeutische Realität ab? Sind psychische Störungen so leicht zu kategorisieren? Ist es wirklich sinnvoll, eine willkürliche Kombination von fünf der neun möglichen Symptome als Depression zu definieren? Warum sind Psychotherapien nicht wirksamer, wenn die behandelnden Psychotherapeutinnen nur zum richtigen Manual greifen müssen? Die psychotherapeutische Realität ist tatsächlich komplexer, dynamischer, individueller, als es die Klassifikationssysteme DSM und ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation WHO) und die aus ihnen abgeleiteten Leitlinien suggerieren (Deacon, 2013; Nelson, McGorry, Wichers, Wigman & Hartmann, 2017; McNally, 2016; Hofmann et al., 2016; Hayes, Hofmann & Ciarrochi, 2020). Diese Komplexität und Dynamik zu vernachlässigen führt auf einer praktischen Ebene zu einer Limitierung der Behandlungsergebnisse, was Psychotherapeutinnen und Patienten gleichermaßen verunsichert. Zudem behindert das Ausblenden von Komplexität und Dynamik auf einer theoretischen Ebene die Weiterentwicklung von Psychotherapie, weil die bestehenden Modellvorstellungen die Lebensrealität nicht abbilden (Hofmann & Hayes, 2018; McHugh, Murray & Barlow, 2009).

Für die praktisch tätige Therapeutin stellt sich zudem die Frage, inwiefern es nützlich ist, die über 270 Behandlungsmanuale für die über 350 DSM-5-Kategorien zu kennen, wenn im Einzelfall unklar ist, welche komorbide Störung in welcher Reihenfolge mit welchen Therapiebausteinen behandelt werden soll. Gerade im ambulanten Setting kann die Flut von störungsspezifischen Ansätzen Therapeutinnen überfordern und zur unsystematischen Anwendung von unterschiedlichen Therapiebausteinen führen (Harvey, Watkins, Mansell & Shafran, 2009). Oder es wird nach einer „One-size-fits-all“-Methode gearbeitet, bei der eine Behandlungsmethode auf alle Patienten angewendet wird. Anstatt das für eine spezifische Störung konzipierte evidenzbasierte Verfahren anzuwenden, wird eine bevorzugte Methode eingesetzt (Harvey et al., 2009). Das spiegelt sich in Aussagen wie „Ich arbeite nach der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), damit komme ich gut zurecht“ oder „Ich arbeite eklektisch, basierend auf meiner persönlichen Meinung“ wider.

Die Limitationen der aktuellen heterogenen und sich überlappenden Diagnosegruppen, die aus der Bewertung subjektiver Patientenangaben abgeleitet wurden, hat auch das in den USA ansässige National Institute for Mental Health (NIMH) erkannt. Es hat vor über zehn Jahren ein umfassendes, multidisziplinäres Projekt initiiert, um auf messbaren biologischen und behavioralen Prozessdimensionen basierende Diagnosegruppen zu identifizieren. Dieses als Research-Domain-Criteria(RDoC)-Initiative bekannte Projekt möchte psychische Störungen durch Methoden der klinischen Neurowissenschaften diagnostizieren statt durch subjektive Symptombeschreibungen. Dazu sollen z. B. elektrophysiologische und bildgebende Verfahren, die neurologische Strukturen oder Funktionen abbilden, Gen|19|analysen und standardisierte Tests zur Untersuchung von Lernprozessen unter Laborbedingungen zum Einsatz kommen. Als Ergebnis sollen psychische Störungen auf biologische und behaviorale Kerndimensionen zurückgeführt werden (Insel et al., 2010). Der dimensionale Charakter würde das Problem der „Cut-off-Grenzen“ lösen und die fließenden Übergänge zwischen psychisch gesund und krank besser abbilden. Die Hoffnung besteht darin, dass sich auf dieser biologischen Ebene der Analyse valide strukturelle oder funktionelle Krankheitsentitäten finden lassen, die die aktuellen Kategorien ablösen können. Obwohl das Projekt noch keine direkten Konsequenzen für die Änderungen der bestehenden DSM-Kategorien hat, zeigt es, dass ein Paradigmenwechsel erfolgen sollte und zukünftige Modelle psychischer Störungen dimensional auf einer Prozessebene und nicht kategorial auf einer Symptomebene konzeptualisiert werden müssen (Hofmann & Hayes, 2018), damit eine Weiterentwicklung der Konzepte von psychischen Störungen und deren Behandlungen nicht behindert wird (Hayes, Hofmann & Ciarrochi, 2020).

2.2  Komplexität und Dynamik psychischer Störungen


In der praktischen Arbeit im Kontext einer psychosomatischen Klinik sind Monostörungen, wie im Lehrbuch dargestellt, nicht nur die Ausnahme, sondern quasi nicht existent. Die Ergebnisse des National Comorbidity Survey (Kessler et al., 1994), bei dem über 65 000 Personen untersucht wurden, zeigten, dass knapp 80 % der Diagnosen bereits komorbide Störungen waren, bei schweren psychischen Erkrankungen lagen in 89 % der Fälle drei und mehr weitere Störungen vor. Die Komplexität und Kombinationsmöglichkeiten von Symptomen bei zwei bis drei Störungen sind so groß, sodass die vermeintliche Vereinfachung durch ein diagnoseorientiertes Vorgehen verloren geht. Die derzeit dominierenden störungsspezifischen Ansätze sind daher nur für wenige Ausnahmefälle geeignet.

Die Ergebnisse der Komorbiditätsstudien sprechen zudem für die geringe diskriminative Validität der Diagnosekategorien (Brown & Barlow, 1992) und dafür, dass einzelne Störungskomponenten auf einer transdiagnostischen Ebene miteinander interagieren (Harvey et al., 2009). Was wir phänotypisch auf Symptom- oder Diagnoseebene sehen, hat keine eindeutige Entsprechung auf Prozessebene. Einerseits können gleiche Prozesse für die Entstehung und Aufrechterhaltung von unterschiedlichen psychischen Störungen verantwortlich sein (Harvey et al., 2009; Fisher, Medaglia & Jeronimus, 2018): Ein Grübelprozess kann eine Depression, eine Generalisierte Angststörung oder eine somatoforme Störung aufrechterhalten. Andererseits können sehr viele unterschiedliche Prozesse in die gleiche Diagnosekategorie münden (Harvey et al., 2009): Der Kernprozess hinter einer Depression kann ein negatives Selbstschema sein, es können aber auch Schwierigkeiten,...

Erscheint lt. Verlag 9.5.2022
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte 3. Welle • 3.-Welle-Verfahren • Behandlung psychischer Störungen • Behandlungsansatz • Buch • diagnoseübergreifend • Evidenzbasiert • Evidenzbasierte Interventionen • Fachbuch • Klinische Psychologie • Kognitive Verhaltenstherapie • Netzwerkmodell • Prozessorientierung • Psychiatrie • Psychische Erkrankungen • Psychische Prozesse • Psychische Störungen • Psychotherapie • Psychotherapieansatz • Psychotherapiemodell • Störungsmodell • störungsübergreifend • Therapiemodell • Therapie psychischer Störungen • transdiagnostisch
ISBN-10 3-8444-3071-7 / 3844430717
ISBN-13 978-3-8444-3071-4 / 9783844430714
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