Paulus - Jude mit Mission
Francke-Buch (Verlag)
978-3-86827-617-6 (ISBN)
Dr. Guido Baltes ist evangelischer Theologe und lebt mit seiner Frau Steffi in Marburg. Er ist Dozent für Neues Testament am Marburger Bildungs- und Studienzentrum.
Kapitel 1 Paulus: Alte und neue Perspektiven Eine Einführung Vor drei Jahren habe ich in meinem Buch über Jesus, den Juden, viele meiner Erfahrungen und Entdeckungen in der Begegnung zwischen Christen und Juden beschrieben. Nun folgt ein weiteres Buch über einen berühmten Juden des ersten Jahrhunderts: Paulus. Pharisäer und Missionar, Christenverfolger und Gemeindegründer, Handwerker und Schriftsteller. Autor der ältesten uns bekannten christlichen Schriften. Und ein Jude aus tiefster Überzeugung. Aber genau hier beginnt schon die Frage: War Paulus denn wirklich ein Jude? In gleicher Weise wie Jesus? Und blieb er es bis zum Ende seines Lebens? Oder hat Paulus nicht doch irgendwann die Grenzen des jüdischen Glaubens verlassen, um sich einem neuen Glauben zuzuwenden? In diesem Buch möchte ich dieser Frage nachgehen. Ein Experiment Dieses Buch ist kein Lehrbuch über Paulus. Keine umfassende Darstellung seines Lebens, keine Zusammenfassung seiner Theologie. Es gibt bereits viele gute Bücher, die sich dieser Aufgabe gewidmet haben.1 In meinem Jesus-Buch habe ich den Fehler gemacht, das nicht deutlich genug und gleich am Anfang gesagt zu haben. So gab es viele Leser, die in dem Buch Wichtiges vermisst haben, was auch noch über Jesus hätte gesagt werden müssen, um das Bild abzurunden. Natürlich kann man über Jesus mehr sagen, als dass er ein Jude war. Und über Paulus auch. Darum soll es aber in diesem Buch nicht gehen. Ich möchte vielmehr zu einem Experiment einladen. Zu einem Experiment, dessen Ausgang für mich, das gebe ich ehrlich zu, selbst noch nicht feststeht. Das Experiment lautet: Wie ändert sich mein Bild von Paulus, wenn ich ihn nicht durch die gewohnte Brille meiner christlichen Tradition betrachte, sondern durch die Brille des jüdischen Glaubens? Was kann ich lernen, wenn ich auf die Stimmen jüdischer Forscher und Ausleger höre, die Paulus oft so ganz anders sehen und verstehen als ich? Wie klingen die Briefe des Paulus, wenn ich sie neben die Schriften der jüdischen Rabbinen und der Rollen vom Toten Meer lege? Klingt dann vielleicht manches, was mir bisher vertraut war, ganz anders? Und ist es möglich, Paulus als einen Juden zu verstehen, der das Judentum zeit seines Lebens nicht verlassen hat? Der festhielt am Glauben seiner Väter, am Gesetz des Moses, am Tempel in Jerusalem, an der Hoffnung auf den Messias? Und der dennoch diesen Glauben auch mit denen teilen wollte, die keine Juden waren? Ehrliche Fragen – offene Antworten Ich gebe zu, dass ich selbst noch nicht auf alle diese Fragen Antworten gefunden habe. Und dass ich noch nicht weiß, wohin dieser Weg führt, wenn man ihn einmal einschlägt. Aber ich möchte ihn neugierig gehen und Sie einladen, mich zu begleiten. Denn so viel kann ich jetzt schon sagen: Im Blick auf Jesus gab es für mich so viel Neues, Interessantes und Überraschendes zu entdecken, nachdem ich angefangen hatte, ihn durch die Augen jüdischer Kollegen, Freunde und Autoren zu sehen. Ich bin daher davon überzeugt, dass es bei Paulus ähnlich viel zu entdecken gibt. Aber ich habe inzwischen auch gelernt, dass die Forschung im Blick auf Paulus noch weit unausgereifter, die Meinungen deutlich geteilter und die Emotionen merklich angespannter sind als bei der Frage nach Jesus. Paulus ist nicht nur innerhalb der Christenheit, sondern auch zwischen Juden und Christen umstrittener als Jesus. Aber genau das macht mich neugierig. Neugierig, den Weg weiterzugehen, den ich bei Jesus begonnen habe. Aber ich möchte ihn fragend gehen. Suchend, bereit, Neues zu entdecken und aus Fehlern zu lernen. Neues aus der Welt der Paulusforschung Nicht alles ist dabei unsicher: Die neuere Forschung zu Paulus und seiner jüdischen Welt hat in den letzten Jahrzehnten jede Menge guter, interessanter und neuer Einsichten erbracht, die in der wissenschaftlichen Welt inzwischen zum Allgemeinwissen gehören. Viele davon sind aber bisher nur in Fachbüchern zu finden, die für Nicht-Theologen schwer zugänglich sind. Mit diesem Buch möchte ich daher dazu beitragen, dass diese neuen Entdeckungen eine weitere Verbreitung in Gemeinden, Bibelkreisen und Predigten finden. Manches in diesem Buch ist aber tatsächlich auch neu, ungewohnt und selbst unter meinen theologischen Kollegen nicht unumstritten. Es sind Beobachtungen, Ideen, Entdeckungen, die mir wichtig geworden sind. Interessante Einsichten, die ich aus dem jüdisch-christlichen Gespräch gewonnen oder in Forschungsarbeiten jüdischer Autoren gefunden habe. Und ich bitte darum, sie als einen Vorschlag zum Gespräch zu verstehen. Aus den Schriften der alten Rabbinen habe ich gelernt, dass es gut ist, unterschiedliche Meinungen offen zu diskutieren und auszutauschen, auch dann, wenn sie auf den ersten Blick abwegig zu sein scheinen. Dort wird nicht erst das aufgeschrieben, was als fertiges Ergebnis feststeht, sondern auch der Prozess der Suche selbst und die unterschiedlichen Meinungen der Rabbinen, die über eine Sache streiten. In jüdischen Lehrhäusern ist es üblich, in Partnerarbeit (hebr. chevruta) zu lernen, um gemeinsam Texte zu studieren, Lösungen für Probleme zu entwickeln und Antworten auf knifflige Fragen zu finden: Zwei Toraschüler sitzen sich dabei an einem Pult oder Tisch gegenüber und tauschen sich intensiv und oft auch lautstark über das aus, was sie beim Studium von Tora oder Talmud entdecken. Ich lade Sie also ein zu einer solchen chevruta: Dieses Buch enthält meine Entdeckungen, Vorschläge und Ideen. Und ich bin gespannt darauf, welche Reaktionen, Antworten, Ergänzungen und Widersprüche es hervorrufen wird. Von Jesus zu Paulus: Eine Fortsetzung des Weges Dieses Buch ist also in gewisser Weise eine Fortsetzung meines Jesus-Buches. Aber ich habe versucht, es so zu schreiben, dass man es auch lesen kann, ohne das erste Buch zu kennen. Manches Grundlegende allerdings will ich hier nicht in gleicher Breite noch einmal sagen. Dazu gehört der ausführliche Einblick in meinen eigenen Lebensweg und meine Begegnung mit dem Judentum in Schule, Studium und einigen Jahren des beruflichen Lebens in Jerusalem. Ein Weg, auf dem ich bei mir viele Vorurteile und Missverständnisse über das Judentum entdeckt, aber auch viele interessante Menschen kennengelernt habe, die mir geholfen haben, solche Vorurteile zu überwinden. Einige davon habe ich in meinem Jesus-Buch beschrieben. Und aus den Reaktionen von Lesern habe ich erfahren, dass es vielen anderen tatsächlich ganz ähnlich ging wie mir. Ich habe außerdem in meinem ersten Buch versucht, ein Grundwissen über die wichtigsten Inhalte des jüdischen Glaubens und Lebens zu vermitteln, sowie die grundlegenden Texte und Quellen des Judentums und die bedeutendsten Rabbinen der Reihe nach vorzustellen. Das alles will ich hier nicht noch einmal wiederholen, sondern setze es voraus. Allen Lesern, die sich bisher mit dem Judentum nicht viel beschäftigt haben, lege ich also nahe, zunächst mit dem ersten Buch zu beginnen. Wer aber ein gewisses Grundwissen über das Neue Testament und das Judentum mitbringt, der wird diesem Buch hier folgen können, auch ohne das erste zu kennen. Paulus und Jesus: Zwei Welten? Dass Jesus ein Jude war und zeit seines Lebens blieb, ist heute für viele Christen eine Selbstverständlichkeit. Zwar mussten dazu in den letzten Jahrzehnten eine ganze Menge von Missverständnissen, Vorurteilen und Schieflagen der Vergangenheit ausgeräumt und überwunden werden. Leider hat erst die schreckliche Katastrophe der Schoa hier wirklich zu einem tiefen Umdenken beigetragen. Aber heute ist der jüdische Jesus ein selbstverständliches und wichtiges Bindeglied zwischen Juden und Christen geworden. Bei Paulus aber liegt die Sache ganz anders: Für viele Menschen bildet er noch immer die entscheidende Trennlinie zwischen den beiden Religionen. Seine Bekehrung „vom Saulus zum Paulus“ stellt für sie nicht nur eine Wende vom Bösewicht zum Glaubenshelden dar, sondern eben auch eine Abwendung vom Judentum und eine Bekehrung zum Christentum. Julius Wellhausen, einer der großen Bibelforscher des 19. Jahrhunderts, war seiner Zeit voraus, als er 1905 den berühmten Satz schrieb: „Jesus war kein Christ, sondern Jude.“2 Weniger bekannt ist allerdings, wie er diesen Gedanken nur wenige Sätze später zu Ende führte: „Man darf das Nichtjüdische in ihm, das Menschliche, für charakteristischer halten als das Jüdische.“3 Deshalb sei es nur konsequent gewesen, dass Paulus den Bruch mit dem Judentum vollzog, den Jesus noch zu vermeiden versucht hatte: „Man kann sich nicht wundern, dass es den Juden so vorkam, als wollte er [Jesus] die Grundlagen ihrer Religion zerstören. Seine Absicht war das freilich nicht, er war nur zu den Juden gesandt und wollte innerhalb des Judentums bleiben (...). Der Schnitt erfolgte erst durch die Kreuzigung und praktisch erst durch Paulus. Er lag aber in der Consequenz von Jesu eigener Lehre und seinem eigenen Verhalten.“ 4 Als ich mein Jesusbuch kurz nach dem Erscheinen einmal an einer deutschen Hochschule im Kreis von Kollegen vorstellte, warnte mich einer der Professoren wohlmeinend vor den unausweichlichen Folgen eines allzu jüdischen Jesus: „Je jüdischer Sie Jesus machen, desto tiefer treiben sie den Keil zwischen Jesus und Paulus, zwischen Jesus und seine Nachfolger. Das ist ein gefährlicher Weg. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie ihn gehen wollen?“ Ich habe diese Warnung als Anlass und Herausforderung genommen, tatsächlich noch ein Stück weiter und intensiver dieser Spur zu folgen: nämlich um herauszufinden, ob das wirklich stimmt: Muss man zwischen einem jüdischen Jesus und einem nichtjüdischen Paulus wirklich eine so deutliche Trennlinie ziehen? Oder was wäre, wenn Paulus, ebenso wie Jesus, sich selbst als gläubigen und gesetzestreuen Juden gesehen hätte, der seinen jüdischen Glauben nie aufgegeben hat? Jesus und Paulus aus jüdischer Sicht Die scharfe Trennung zwischen Jesus und Paulus hat auch die jüdische Forschung über Paulus lange Zeit geprägt. Zwar hat man bis zur Aufklärungszeit sowohl Jesus als auch Paulus gleichermaßen als „Ketzer“ behandelt. In nahezu allen modernen Jesusdarstellungen seit dem 19. Jahrhundert aber wird Jesus dann von jüdischen Autoren ganz selbstverständlich als „einer von uns“ ins Judentum zurückgeholt: Er war vielleicht ein ungewöhnlicher Jude, ein Reformjude, ein größenwahnsinniger Jude, ein verrückter Jude. Aber ohne Zweifel ein Jude. Ganz anders ist es mit Paulus: Er wird in der älteren jüdischen Forschung fast durchgängig als ein „Abtrünniger“ dargestellt. Einer, der das Judentum verließ und eine neue Religion gründete. Heinrich Graetz etwa, der bekannteste jüdische Historiker des 19. Jahrhunderts, beschrieb Jesus, damals revolutionär, als einen gesetzestreuen Juden, der nur aufgrund eines Missverständnisses gekreuzigt wurde. Paulus dagegen erscheint bei ihm noch in ganz anderem Licht: „Schwach an Körper und kränklich, verband er damit eine Zähigkeit, die vor keinem Hindernis zurückwich. Reizbar und heftig an Seelenstimmung, war er maßlos einseitig, eckig, beharrlich und verfolgungssüchtig (...). Er hatte nur geringe Kenntnis vom judäischen Schrifttum und kannte die heilige Schrift nur aus der griechischen Übersetzung. (...) Paulus ging aber geradezu darauf aus, die Fäden zu zerreißen, welche die Christuslehre mit dem Judentum verknüpfte. (...) Paulus fasste daher das Christentum als völligen Gegensatz gegen das Judentum auf.“5 Ähnlich urteilen nach ihm auch die meisten übrigen jüdischen Gelehrten: etwa Kaufmann Kohler, ein führender Denker des entstehenden Reformjudentums in den USA, oder auch der britische Neutestamentler Claude Montefiore.6 In Israel erscheint im Jahr 1939 das erste Paulusbuch in hebräischer Sprache. Es stammt aus der Feder von Joseph Klausner, Professor an der gerade neu gegründeten hebräischen Universität von Jerusalem. Für ihn war Paulus schon durch seine Herkunft aus Tarsus ein „Diaspora-Jude“, der sich vom eigentlichen Judentum entfremdet hatte.7 Er habe den Wunsch gehabt, Judentum und Heidentum zu einer weltweiten Einheitsreligion zu verbinden, und zu diesem Zweck habe er die neue Religion, das Christentum, gegründet: „Ohne Jesus hätte es weder Paulus noch das Nazarenertum gegeben. Aber ohne Paulus hätte es kein Weltchristentum gegeben. In diesem Sinne ist nicht Jesus der Stifter des Christentums, wie das die allgemein verbreitete Ansicht unter den Völkern ist, sondern Paulus, der ‚Heidenapostel‘.“8 Martin Buber unterschied in seinem berühmten Werk „Zwei Glaubensweisen“9 den jüdischen Glauben deutlich vom christlichen. Der jüdische Glaube, hebräisch emuna, sei in der Bibel immer eine persönliche Vertrauensbeziehung zwischen dem Menschen und Gott. Diesen Glauben sieht Buber in typischer Weise in Jesus repräsentiert. Paulus dagegen gebrauche für den Glauben das griechische Wort pistis, das nach Bubers Ansicht ein reines Für-wahr-Halten von Glaubenssätzen bezeichne. Dieses sei typisch für den christlichen Glauben geworden und bei Paulus liege daher auch der tiefe Grund für die Trennung zwischen Judentum und Christentum. Auch Bubers Zeitgenosse und Landsmann Leo Baeck folgte einer ähnlichen Linie, obwohl er gegen Ende seines Lebens einräumte, dass Paulus zwar „... auf der einen Seite seine Freiheit und Unabhängigkeit vom Judentum verkündet, (aber) auf der anderen Seite festhält am Forschen in diesem Judentum und an der jüdischen Denkweise und der jüdischen Lehrart. Er hat so tief im Judentum gelebt, dass er seelisch und geistig niemals von ihm freigekommen ist.“10 Die traditionelle Trennung zwischen einem jüdischen Jesus und einem nichtjüdischen Paulus hält sich in vielen Köpfen bis heute. Noch im Jahr 1986 sorgte das Buch eines englischen jüdischen Gelehrten für Aufsehen: „Der Mythenschmied – Paulus und die Erfindung des Christentums“.11 Darin wird Paulus nicht nur als der eigentliche Gründer des Christentums dargestellt, sondern es wird sogar bezweifelt, dass er überhaupt je ein Jude gewesen sei. Eine Trendwende kündigt sich an Gleichzeitig hat sich aber in den letzten Jahrzehnten der Wind merklich gedreht: Der aus Deutschland stammende und später nach Israel emigrierte Gelehrte Schalom ben Chorin etwa veröffentlichte schon 1970 ein Paulus-Buch, das damals völlig gegen den Trend lief. Er beginnt sein Buch mit den programmatischen Worten: „Es gibt ein wissenschaftliches Dogma, das vor allem unter aufgeklärten Juden sehr verbreitet ist, aber heute auch unter Christen zahlreiche Anhänger findet: Jesus war und blieb Jude; Paulus vollzog den Schritt vom Judentum zum Christentum. Paulus also ist der Stifter des Christentums, nicht Jesus von Nazareth. Ich glaube das nicht. (...) Paulus ist Jude gewesen und geblieben. Das hat ihn nicht daran gehindert, seine Botschaft in die Völkerwelt zu tragen. In seiner Argumentation, in seiner Theologie und insbesondere auch in seiner Christologie, seiner Lehre vom Messias, ist er jüdischer Theologe geblieben.“12 Das waren für einen jüdischen Autor ungewöhnlich positive Töne. Aber der streitbare Publizist fand großen Anklang und ist vielleicht einer der bekanntesten deutschsprachigen Vertreter einer neuen Sicht des Paulus, die sich in der jüdischen Forschung immer mehr durchsetzt. Zehn Jahre vorher hatte schon der jüdische Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps eine „Heimholung des Ketzers“13 angeregt: Paulus gehörte auch für ihn ins Judentum hinein. Verschiedene englische, amerikanische und israelische Autoren schlossen sich dieser neuen Richtung an.14 Sehr kämpferisch und besonders radikal folgt auch Pinchas Lapide diesem neuen Weg:15 Wie man es von seinen Büchern kennt, versucht er aufgrund einer Reihe von vermeintlichen Fehlübersetzungen und Falschinterpretationen nachzuweisen, dass Paulus in Wirklichkeit ein Angehöriger der essenischen Gemeinschaft von Qumran war und eigentlich schon im Neuen Testament völlig falsch gedeutet wurde. Der Keil, der früher zwischen Jesus und Paulus getrieben wurde, entsteht also nun zwischen Paulus und dem späteren Christentum. Und es stellt sich die Frage: Haben die Christen nun nicht nur Jesus, sondern auch noch Paulus missverstanden? Diese Frage wird noch zu klären sein. Ein „liberaler“ oder ein „orthodoxer“ Paulus? Einig sind sich alle diese neuen jüdischen Paulusdarstellungen aber in einem Punkt: Sie sehen in Paulus einen „liberalen“ Juden. Einen, der es mit der Tora und der jüdischen Tradition nicht so ganz ernst nahm. Die verbreitete christliche Ansicht, Paulus habe die „Freiheit vom Gesetz“ gepredigt, ist auch unter seinen jüdischen Lesern weitverbreitet. So deuten sie Paulus ganz im Licht des modernen „Reformjudentums“, eines Judentums, das zwar Grundwerte des jüdischen Glaubens bewahrt, aber die Treue zu Tora und jüdischer Lebensweise (halacha) weithin aufgibt. In letzter Zeit jedoch mehren sich die Stimmen, die auch diese Ansicht nun noch einmal infrage stellen und noch einen Schritt weiter gehen: Immer mehr jüdische Forscher, vor allem aus dem englischen Sprachraum, zeichnen mittlerweile ein noch konsequenteres Bild eines „orthodoxen“ jüdischen Paulus. Für sie blieb er zeit seines Lebens nicht nur in seinem Denken, sondern auch in seiner Lebenspraxis der Tora und dem Tempel treu. Er feierte weiterhin jüdische Feste, praktizierte die Beschneidung, ging in den Tempel und hielt sich an die biblischen Speise- und Reinheitsgebote. Und das nicht nur dann, wenn es ihm gerade passte, sondern grundsätzlich. Das klingt für christliche Ohren zunächst befremdlich und schnell hat man Bibelstellen zur Hand, die einem solchen Paulusbild scheinbar widersprechen. Diese Stellen werden wir in den folgenden Kapiteln noch genauer betrachten. Ich möchte aber zunächst dieser neuen Spur einmal ernsthaft folgen und in diesem Buch Schritt für Schritt prüfen, ob sich anhand des Neuen Testaments tatsächlich ein solches Bild von Paulus zeichnen lässt. Christliche Paulusbilder im Wandel Auch unter christlichen Forschern hat sich das Bild von Paulus im vergangenen Jahrhundert deutlich verändert. Die Entwicklung ist dabei ganz vergleichbar mit den jüdischen Stimmen: Das eingangs zitierte Wort von Julius Wellhausen über den „Schnitt“ zwischen Jesus und Paulus, der gleichzeitig ein Bruch mit dem Judentum war, ist kein Einzelfall. Fast zeitgleich mit ihm veröffentlichte der Theologe William Wrede eine sehr bekannte Paulus-Biografie, die für viel Aufsehen sorgte: Laut Wrede war Paulus der „zweite Stifter des Christentums“16, weil das, was er in seinen Briefen schrieb, mit der Botschaft und Lehre Jesu fast nichts gemeinsam habe. In einem Rückblick auf das Wrede-Buch titelt der SPIEGEL gut sechzig Jahre später: „Paulus hat Jesus nicht verstanden“. Das Verhältnis des Paulus zum Judentum fasst Wrede so zusammen: „Er hat den Jesusglauben nicht nur über die Enge des Judentums hinausgehoben, sondern vom Judentum selbst losgerissen und damit der christlichen Gemeinschaft erst das Selbstbewusstsein einer neuen Religion gegeben.“17 Auch für Rudolf Bultmann, den wohl wichtigsten neutestamentlichen Forscher der Nachkriegszeit, klafft zwischen Jesus und Paulus eine deutliche Lücke: Die Briefe des Paulus zeigten seiner Ansicht nach „kaum Spuren eines Einflusses (...) der Geschichte und Verkündigung Jesu“. Für Paulus sei an Jesus nur das eine bedeutsam: „Dass er als Jude unter Juden gelebt hatte und dass er gekreuzigt worden war.“ Die Heilslehre des Paulus sei daher „keine Wiederaufnahme oder Weiterbildung der Verkündigung Jesu“.18 Diese Linie setzt sich vereinzelt bis heute noch fort. Im Jahr 2008 veröffentlichte der Göttinger Neutestamentler Gerd Lüdemann sein Buch „Paulus – der Gründer des Christentums“. Lüdemann hatte schon einige Jahre früher von sich reden gemacht, als er die Auferstehung Jesu als eine Erfindung bezeichnete und daraufhin seine kirchliche Anerkennung als Professor der evangelischen Theologie verlor. Sein Lehrstuhl wurde daraufhin umbenannt in „Professur für Geschichte und Literatur des frühen Christentums“, und so konnte er bis zu seiner Emeritierung 2011 weiterhin evangelische Pfarrer und Religionslehrer ausbilden. Für ihn jedoch ist das Ergebnis seiner lebenslangen Paulusforschung ernüchternd: „Die christliche Kirche verdankt diesem jüdischen Mann aus Tarsus fast alles. Er ist der wahre Gründer des Christentums. (...) Dabei versetzte er die Religion Jesu, so wie er sie missverstand, auf heidnisches Territorium und bewirkte, ohne es wirklich zu wollen, die andauernde Trennung von Kirche und Israel. (...) Er war gewiss eine wahrhaft große Gestalt im Christentum, ja ihr Gründer. Aber die bis heute vertretene Auffassung, seine Briefe enthielten Gottes Wort, ist ein trauriger Verrat an der Vernunft und eine Flucht vor dem Leben.“19 Neue Paulusperspektiven Gerd Lüdemann ist allerdings mit seinen radikalen Ansichten heute nicht mehr repräsentativ. Denn auch unter christlichen Bibelforschern hat sich der Wind inzwischen spürbar gedreht: Das Erschrecken über die Vernichtung von rund 6 Millionen Juden in der Zeit des Zweiten Weltkriegs ließ viele Christen aufhorchen. Die großen Kirchen verfassten Denkschriften und Erklärungen, die eine erneuerte und radikal veränderte Beziehung zum Volk Israel und zum jüdischen Glauben einforderten. Und die Frage wurde laut, ob es denn wirklich Paulus war, der den Jesusglauben von Jesus und vom Judentum dauerhaft gelöst hatte. War er es wirklich, der Jesus missverstanden und falsch gedeutet hatte? Oder waren vielleicht wir, die Christen, es, die Paulus missverstanden und falsch gedeutet haben? Haben wir ihn vielleicht zu sehr durch die Brille einer jahrhundertealten christlichen Judenfeindschaft gelesen? Haben wir vielleicht theologische Ideen in seine Briefe hineingelesen, die in Wirklichkeit unsere eigenen Fragen und unsere eigene Kultur mehr widerspiegeln als die jüdische Kultur des ersten Jahrhunderts? Einer der wenigen deutschen Theologen, die schon vor dem Krieg stets darum bemüht waren, sowohl Paulus und Jesus als auch Paulus und das Judentum zusammenzuhalten, war der Tübinger Professor Adolf Schlatter. Er wurde dafür seinerzeit von seinen Kollegen müde belächelt. Man schrieb es seinem naiven Glauben und seiner bibelorientierten Frömmigkeit zu, dass er die vermeintlich gesicherten Erkenntnisse der modernen Forschung nicht akzeptierte. Aus heutiger Sicht aber muss man Schlatter zugestehen, dass er seiner Zeit schon damals weit voraus gewesen war. Vieles von dem, was er damals gegen den Strom der Zeit festhielt, hat sich durch die Forschung der letzten Jahrzehnte als richtig erwiesen. Der Tübinger Neutestamentler Peter Stuhlmacher formuliert im Rückblick: „[Damals] konnte man dies belächeln und als unwichtige Einzelmeinung beiseiteschieben. Heute können wir dies nicht mehr. Wir müssen vielmehr zugestehen, dass Schlatters Sicht die historisch bessere und wegweisende war und ist. Mag Schlatters Exegese im Einzelnen zu undifferenziert und konstruiert sein, seine Gesamtperspektive bleibt richtig, und das will nach fünfzig Jahren Paulusforschung, die mittlerweile ins Land gegangen sind, schon etwas heißen!“20 Eine veränderte Sicht des Judentums und damit auch eine veränderte Sicht des Paulus hat sich spätestens seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts unter der Bezeichnung „Neue Paulus-Perspektive“ in der Forschung verbreitet.21 Was genau sich hinter diesem Namen verbirgt und wer zu den Vertretern dieser Richtung gehört, das bleibt zwar bis heute umstritten. Und nicht alle Theorien und Meinungen, die sich unter diesem Dach sammeln, sind unbedingt richtig. Manches darf man zu Recht auch skeptisch beurteilen. Unterm Strich jedoch kann man schon jetzt sagen: Ganz gleich, ob man der neuen Paulusperspektive zustimmend oder skeptisch gegenübersteht, sie hat unser Bild von Paulus radikal verändert. Einzelheiten werden in den nachfolgenden Kapiteln noch deutlich werden. Aber insgesamt ist die Kluft zwischen Paulus und dem Judentum und auch die Kluft zwischen Paulus und Jesus heute viel kleiner als noch vor 50 Jahren. Mehr und mehr christliche Bibelforscher räumen heute ein, dass wir in den Briefen des Paulus nicht etwa eine fremde und neue Religion, sondern einen authentischen Ausdruck jüdischen Glaubens und Lebens im ersten Jahrhundert vor uns haben. Mehr und mehr Forscher sind der Meinung, dass Paulus selbst sich zeitlebens als Jude verstand, das heißt auch nach seiner Hinwendung zu Jesus und bis ans Ende seines Lebens. Natürlich ist unser Bild vom antiken Judentum auch vielfältiger geworden. Nicht zuletzt durch die umfangreichen Schriftfunde vom Toten Meer, die wie die Paulusbriefe eine Spielart des Judentums darstellen, die von der offiziellen Mehrheitsmeinung abweicht. Viele Forscher sprechen daher heute nicht mehr von „dem Judentum“, sondern von „vielen Judentümern“, die es zur Zeit des Neuen Testaments gab. Und sie fragen nicht mehr, ob Paulus ein Jude war, sondern welche Art von Judentum er vertrat. Umstritten bleibt dabei vor allem, ob für ihn Treue zur Tora und zum Tempel weiterhin Bestandteil seines jüdischen Glaubens war. Diesen Fragen möchte ich in den nächsten Kapiteln genauer nachgehen. Der trennende Faktor Egal wie jüdisch, wie gesetzestreu und wie traditionsverbunden man das Bild von Paulus zeichnen mag – zwei charakteristische Kennzeichen seines Glaubens und seines Lebens unterscheiden ihn bis heute deutlich von allem, was Judentum sonst ausmacht und durch die Zeiten ausgemacht hat: Da ist zum einen sein unbeirrbarer Glaube daran, dass Jesus von Nazareth der Messias ist, der von der Schrift angekündigte gesalbte Nachkomme Davids und endzeitliche Retter Israels und der Welt. Dass ein solcher Messias von der Schrift verheißen ist und eines Tages kommen wird, das glaubten auch andere Juden, und es gehört bis heute zu den Kernüberzeugungen des Judentums. Manche jüdische Gruppen glauben sogar, ähnlich wie die Christen, dass der Messias bereits gekommen ist.22 Aber dass es ausgerechnet dieser Jesus von Nazareth ist, darin unterscheidet sich der Jude Paulus und mit ihm alle jüdischen Anhänger des Jesusglaubens von allen anderen Juden. Es ist daher dieser Glaube und nicht irgendeine andere nichtjüdische Überzeugung, der letztlich zur endgültigen Trennung zwischen Judentum und Christentum geführt hat. Und es ist bis heute auch dieser Glaube, der für die meisten jüdischen Autoren den entscheidenden Punkt darstellt, an dem sich ihre Wege von Jesus und Paulus trennen. Die Wiederentdeckung des jüdischen Paulus sollte uns also nicht die Augen vor diesem entscheidenden und bleibenden trennenden Faktor verschließen, der nicht wegzudiskutieren ist. Aber wir müssen hier auch klar unterscheiden zwischen der Außensicht und der Selbstsicht: Es mag sein, dass andere Juden Paulus aufgrund seines Glaubens an den Messias nicht mehr als „echten“ Juden betrachten. Das ist natürlich ihre Entscheidung. Eine andere Frage ist jedoch die, ob Paulus selbst seinen Glauben als „unjüdisch“ betrachtete. Für ihn ging in Jesus eine alte jüdische Erwartung in Erfüllung, mit der er vermutlich schon als Kind aufgewachsen war. Für ihn wurde durch das Kommen des Messias das Judentum nicht aufgehoben oder beendet, sondern bestätigt. Das jedenfalls versuche ich in diesem Buch zu zeigen: Auch wenn andere ihm später sein Judentum absprachen: Für Paulus selbst stand stets außer Frage, dass er ein Jude blieb, auch wenn er nun in Jesus den gekommenen Messias sah. Oder gerade deshalb. Ein Jude mit Mission? Ein zweites Merkmal unterscheidet Paulus ebenfalls von (fast) allen anderen Strömungen des Judentums, damals und heute: Es ist sein unermüdlicher Missionseifer. Der Wunsch, dass nicht nur Juden zum Glauben an den Messias Jesus finden, sondern auch Menschen aller anderen Religionen und Weltanschauungen. Diese missionarische Grundeinstellung war in der jüdischen Welt des Paulus ebenfalls ungewöhnlich. Bis heute versteht sich das Judentum als eine nicht-missionarische Religion. Freiwillige Übertritte sind zwar möglich, es wird den Interessenten aber sehr schwer gemacht und es soll eher die Ausnahme bleiben. Zur Zeit des Neuen Testaments gab es zwar auch offenere Strömungen innerhalb des Judentums, in denen man Interessenten zum Übertritt ermutigte. Und wir wissen, dass es gerade in dieser Zeit auch insbesondere unter Griechen und Römern ein großes Interesse am jüdischen Glauben gab, welches zu einer großen Welle von Übertritten führte. Aber eine vergleichbare missionarische Aktivität, wie wir sie bei Paulus und den ersten Christen finden, gab es damals nirgends sonst. Und schon gar nicht eine Mission, die nicht den Übertritt zum Ziel hatte, sondern gemeinsame Gemeinden aus Juden und Nichtjuden. Hier geschah etwas Neues, etwas Revolutionäres. Und auch an dieser Stelle verläuft bis heute eine Trennlinie zwischen Juden und Christen. Eine sensible Trennlinie, die auch das christlich-jüdische Gespräch immer wieder belastet: Jüdische Gemeinden sprechen sich deutlich und unmissverständlich gegen jede Mission aus. Und sie erwarten das Gleiche auch von ihren christlichen Gesprächspartnern. Diese aber können sich nicht so einfach von dem lossagen, was für Paulus und die ersten Jesusnachfolger lebensbestimmend war. Paulus, der Jude mit Mission, bleibt daher ein Störfaktor im christlich-jüdischen Gespräch. Zwar gibt es inzwischen eine Reihe von kirchlichen Gruppen und auch Kirchenleitungen, die sich offen vom Begriff der „Mission“ distanzieren. Das gelingt aber auch nur deshalb, weil der Begriff als solcher in der Bibel gar nicht vorkommt. Von der Sache an sich hat sich bisher noch keine Kirche lossagen können und wollen. 23 In immer neuen Formulierungen versucht man das Problem zwar zu umgehen oder zu umschreiben. Man redet vom gegenseitigen Zeugnis, von der Weitergabe des Glaubens, vom Auftrag der Verkündigung, von der Einladung. Aber am Ende bleibt es doch unausweichlich im Raum stehen wie der berühmte Elefant, den man zu ignorieren versucht: Der Glaube des Neuen Testaments ist ein Glaube, der die ganze Welt im Blick hat. Juden wie Nichtjuden, Gläubige wie Ungläubige, Religiöse und Atheisten. Vielleicht hilft es ja, hier neu auf den Juden Paulus zu hören. Denn Paulus verband den jüdischen Glauben offenbar, wie Jesus, mit dem Gedanken der Mission, und für ihn war das kein Gegensatz. Wie beides für ihn zusammenpasst, das wird noch zu sehen sein. Alter Glaube in einer veränderten Kultur Wenn es stimmt, dass Paulus ein Jude war und es auch bis zu seinem Lebensende blieb, dann fällt damit auch neues Licht auf einen anderen Aspekt seines Lebens: seinen Umgang mit den Herausforderungen, als gläubiger Jude in einer nichtjüdischen Kultur zu leben. Diese Frage hat ja durchaus auch heute eine aktuelle Relevanz: Wie lebt man seinen Glauben in einer Umwelt, die diesen Glauben nicht teilt oder ihm sogar ablehnend gegenübersteht? Wie orientiert man sich an der Bibel in einer Kultur, der die Bibel fremd ist? Welchen Einfluss hat die Kultur unserer Umgebung auf unsere eigenen Werte und Weltanschauungen? Soll man sich völlig zurückziehen und abschotten gegen alle fremden Einflüsse von außen? Oder soll man sich für das Fremde öffnen und sich so gut es geht den Trends von Zeitgeist und Umgebungskultur anpassen? Die ältere Paulusforschung sah in Paulus den Vorreiter einer Strategie der größtmöglichen Anpassung. Um in den Städten Asiens, Griechenlands und Roms ankommen zu können, sei er bereit gewesen, seine eigene jüdische Identität aufzugeben und seinen jüdischen Glauben zu verlassen. Dass er mit der „Enge des Judentums“ brach, wurde Paulus als eine „großartige Leistung“ von „weltgeschichtlicher Bedeutung“ angerechnet.24 Die oft zitierte Redewendung „Den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche“ wurde sozusagen zum Kennzeichen eines weltoffenen Umgangs mit Glaube, Religion und Kultur, der sich je nach Umgebung wie ein Chamäleon den Erfordernissen anzupassen versteht. Dass diese Redewendung sich bei Paulus gar nicht findet, wurde dabei weithin übersehen.25 Identität bewahren – auch in einer veränderten Welt Die neuere Paulusforschung hat auch hier ein ganz anderes Bild von Paulus entworfen: das Bild eines gläubigen Juden, der einen schwierigen dritten Weg zwischen völliger Abschottung und völliger Anpassung entwirft: Er überschreitet die Grenzen seines vertrauten jüdischen Umfeldes und sucht aktiv den Kontakt und die Berührung mit der fremden griechischen Kultur, die ihn umgibt. Und dennoch gibt er dabei seinen eigenen Glauben und seine eigene jüdische Identität nicht auf. Im Gegenteil. Sein Ziel ist es, dass beides zusammenfindet: der alte Glaube des Volkes Israel und die neue, veränderte Kultur. Der alte Glaube soll in der neuen Kultur Wurzeln fassen und diese von innen her verändern. Paulus vertraut darauf, dass der Glaube der Bibel gerade dann seine Kraft entfaltet, wenn er nicht nach Belieben verändert und den Gegebenheiten angepasst wird, sondern sich selbst treu bleibt. Es ist für Paulus nicht immer einfach, diesen Weg zu gehen. Er muss ständig nach neuen Lösungen und Antworten suchen auf Fragen und Probleme, die sich bisher nicht gestellt hatten: Wie lebt man den alten Glauben unter neuen Bedingungen, ohne falsche Kompromisse zu machen? Welche Gewohnheiten und Macken der anderen, fremden Kultur kann man geduldig ertragen, welche muss man mutig infrage stellen und mit welchen muss man radikal brechen? Wo sucht man den Frieden und wo ist Widerstand unausweichlich? In den Briefen des Paulus finden wir lebendige Beispiele, wie die ersten Christen mit solchen Fragen umgingen. Und wir erleben, wie Paulus darum ringt, den alten Glauben der Bibel in einer neuen und veränderten Kultur ins Leben umzusetzen. Paulus, der Jude – und die Missverständnisse der Christen Ich möchte mit diesem Buch einen neuen Blick auf Paulus werfen und damit auch einige verbreitete Missverständnisse und Vorurteile infrage stellen, die mir bei Gesprächen über Paulus immer wieder begegnen. Besonders häufig sind dabei solche Vorurteile, die einen Keil treiben wollen zwischen Paulus und andere. Paulus ist ohne Zweifel eine kantige Persönlichkeit. Das macht ihn einerseits sympathisch, aber andererseits eben auch unbequem. Doch anders als bei Jesus, bei dem man oft die versöhnlichen Seiten herausstreicht und die unbequemen unter den Teppich kehrt, gehen viele Christen mit Paulus anders um: Bei ihm sucht man den Konflikt mit der Lupe. Und wo immer man einen entdecken kann, versucht man ihn so krass wie möglich zu zeichnen. Paulus steht dann am Ende als einer da, der mit nahezu jedem anderen in der Welt im Streit lag und es sein Leben lang nur auf Auseinandersetzungen anlegte. Diese sehr verbreitete Sicht auf Paulus ist wie eine gefärbte Brille, die uns beim Lesen der biblischen Texte immer wieder den Blick trübt oder unser Bild von Paulus verändert. Ich möchte die wichtigsten dieser vermeintlichen Konflikte daher gern am Anfang dieses Buches vorstellen, damit wir sie wiedererkennen, wenn sie uns beim Lesen einzelner Texte begegnen. Und damit wir sie besser behalten können, benutze ich einmal ein griffiges Bild aus der Handwerkerwelt: den Keil, den man zwischen Paulus und seine vermeintlichen Kontrahenten treibt. Der „Paulus-Jesus-Keil“ Der Paulus-Jesus-Keil ist uns in diesem Kapitel schon mehrfach begegnet. Er ist ein sehr beliebtes Werkzeug im Umgang mit Paulustexten. Wie man dieses Werkzeug anwendet, das ist je nach Situation verschieden. Man kann einen Keil zwischen den jüdischen Jesus und den christlichen Paulus treiben, so wie es bei vielen der oben zitierten jüdischen und auch christlichen Autoren zu sehen war. Man kann auch einen Keil treiben zwischen einen sanftmütigen Jesus und einen aufbrausenden Paulus. Oder zwischen einen liberalen Jesus und einen sittenstrengen Paulus. Viele Ausleger treiben aber auch einen Keil zwischen die Botschaft von Jesus und die Botschaft von Paulus. So schreibt etwa der bekannte katholische Religionspädagoge Hubertus Halbfas: „Jesus und Paulus vertreten verschiedene Evangelien. Es ist falsch und führt zu einem unklaren Denken, unter dem Wort Evangelium beide Programme zusammenzufassen. Das Neue Testament versammelt hier einander ausschließende Theologien. Da Paulus kein Zeuge des Evangeliums Jesu war, kann es auch nicht verwundern, dass das, was er ‚mein Evangelium‘ nennt,26 seine vollkommen eigene Schöpfung war. Der Erfolg seiner Heidenmission, der sich die Kirche letztlich verdankt, als auch der Untergang des palästinischen Judenchristentums nach dem Jahr 70 führte dazu, dass das Reich-Gottes-Evangelium Jesu von dem inhaltlich ganz anders geprägten Evangelium des Paulus überdeckt wurde.“27 Während dieser Keil in der kritischen Bibelforschung schon eine lange Tradition hat, die, wie wir gesehen haben, bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, wird er in neuerer Zeit auch von solchen Christen wiederentdeckt, die sich eher zum bibelfesten Lager zählen. Für sie ist Paulus ein Symbol für das traditionelle, dogmatische Christentum und deshalb ein Hindernis für eine echte, radikale Jesusnachfolge. Der amerikanische Theologe Brian McLaren etwa beschrieb 2010 in seinem Buch „A New Kind of Christianity“ eine Schlüsselerfahrung seines Lebens, die ihn dazu brachte, seinen bisherigen Glauben ganz neu zu überdenken: „Wie so viele Protestanten habe ich viele Jahre ‚genau gewusst‘, was das Evangelium ist. Ich ‚wusste‘, dass das Evangelium die Botschaft von der ‚Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben‘ ist, verfälscht oder vergessen von den nervigen Katholiken, aber wiederentdeckt durch unseren großen Helden Martin Luther durch eine Lektüre des noch größeren Helden Paulus, besonders dessen Briefes an die Römer. Wenn sich die Katholiken als ,römisch-katholisch‘ bezeichneten wegen ihrer Treue zu ihrem Hauptquartier in Rom, so hätte man uns als ,römisch-evangelisch‘ bezeichnen können, denn wir hatten unser Hauptquartier im Römerbrief des Paulus. Recht kleinlaut habe ich aber vor etwa 15 Jahren aufgehört, vieles von dem zu wissen, was ich bisher gewusst hatte. Ein Mittagsgespräch in einem chinesischen Restaurant entüberzeugte und entlehrte mich. Mein Gesprächspartner war ein bekannter evangelikaler Theologe, der mit einer einzigen provokativen Aussage meine jahrelange theologische Gewissheit ziemlich rüde über den Haufen warf: ‚Die meisten Evangelikalen haben auch nicht die leiseste Ahnung davon, was das Evangelium wirklich ist.‘ Er fragte mich dann, wie ich das Evangelium definieren würde, und ich antwortete so, wie es die meisten guten römisch-evangelischen tun würden, indem ich aus dem Römerbrief zitierte. Er antwortete mit einer einfachen, aber ziemlich herausfordernden Frage: ‚Du zitierst Paulus. Solltest du aber nicht Jesus definieren lassen, was das Evangelium ist?‘ Ich schaute ihn etwas verstört an und er fragte weiter: ‚Was war denn das Evangelium von Jesus?‘ Peinlich berührt, murmelte ich irgendwas wie ‚Sag du es mir‘, und er fuhr fort: ‚Für Jesus war das Evangelium sehr klar: Das Reich Gottes ist nahe. Das ist das Evangelium von Jesus. Oder nicht?‘ Ich murmelte wieder so etwas wie ‚Hm, ja, schon‘. Er sah, dass ich noch nicht wirklich überzeugt war, und fügte hinzu: ‚Solltest du nicht Paulus aus der Perspektive von Jesus lesen, anstatt Jesus aus der Perspektive von Paulus?‘“28 In der Tat ist die Frage mit der Perspektive gut gestellt. Auf den ersten Blick scheint es auch plausibel zu sein, dass die erstgenannte Richtung besser ist als die zweite. Wenn wir jedoch ernsthaft eintauchen in die jüdische Welt von Jesus und Paulus, dann müssen wir auch zugeben, dass beide Perspektiven sich gar nicht voneinander trennen lassen: Die Welt von Jesus und Paulus ist von der unsrigen immerhin durch zweitausend Jahre und noch weit mehr Kilometer getrennt. Jesus und Paulus dagegen gehören in die gleiche kulturelle und religiöse Welt, sie haben im gleichen Land gelebt und die gleiche Sprache gesprochen. Auch wenn sie sich vor Jesu Kreuzigung und Auferstehung nie persönlich trafen (was wir allerdings nicht genau wissen), liegen doch nur wenige Jahre, vielleicht gerade einmal Monate, zwischen den beiden. Ist es da nicht möglich und denkbar, dass der Jude Paulus die Botschaft des Juden Jesus tatsächlich besser und richtiger verstanden hat als wir heute? Ist es nicht ein großartiger Glücksfall, dass uns nicht nur die Berichte über das Leben Jesu und seine Worte erhalten geblieben sind, sondern auch noch die Briefe von jemandem, der uns nur wenige Jahre später ausführlich erklärt, wie diese Worte und dieses Leben auf einen jüdischen Zuhörer des ersten Jahrhunderts wirkten? Welche Bedeutung sie entfalten konnten? Und wie sie innerhalb weniger Jahrzehnte nicht nur ein Leben, sondern eine ganze Welt veränderten? Ich persönlich halte es gar nicht für dumm, Jesus durch die Brille des Paulus zu verstehen. Denn es ist, wenn man so will, die älteste und ausführlichste jüdische Brille, die wir aus dem ersten Jahrhundert haben. Eine unmittelbare jüdische Reaktion von einem Mann, der sich auskannte im Judentum. Der die Lehren der Pharisäer und Sadduzäer genauer kannte als wir. Und das nicht nur aus den wenigen Sätzen, die uns in den Evangelien überliefert wurden, sondern aus eigener Anschauung. Jemand, der das, was Jesus sagte, tat und war, einordnen konnte in den größeren Kontext der jüdischen Welt von damals mit ihren Erwartungen, Hoffnungen, Traditionen und Überzeugungen. Ich denke, es macht Sinn, auf die Stimme von Paulus zu hören, um Jesus besser zu verstehen. Und nicht umgekehrt Jesus zuerst aus unserer heutigen Zeit heraus und durch unsere modern-westliche Brille zu deuten, um ihn dann gegen Paulus auszuspielen. Noch dazu gegen einen Paulus, dem wir unterstellen, er sei zu weit von Jesus entfernt gewesen, um ihn richtig zu verstehen. Möglicherweise stellt sich ja heraus, dass der Unterschied zwischen Jesus und Paulus am Ende doch gar nicht so groß ist, wie er oft gezeichnet wird. Und dass Paulus, als ein guter jüdischer Theologe, mit seinen eigenen ausführlichen Worten ganz gut das beschrieb und erklärte, was Jesus oft in nur wenigen Worten angedeutet hat: das Evangelium von der guten Herrschaft Gottes, die durch das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu in die Welt gekommen ist. Und in das Leben jedes Menschen, der sich dafür öffnet und daran festhält. Der „Paulus-Moses-Keil“ Auch dieser Keil ist auf den vergangenen Seiten schon vielfach zur Sprache gekommen. Er steht für die verbreitete Ansicht, für Paulus habe die Hinwendung zu Jesus zugleich auch eine Abwendung vom Judentum, vor allem aber vom mosaischen Gesetz, bedeutet. An dieser Stelle übrigens ist man gern bereit, eine Kontinuität zwischen Jesus und Paulus herzustellen und sogar zu betonen: Schon Jesus habe sich ja dem jüdischen Gesetz gegenüber sehr frei verhalten. Er habe demonstrativ den Sabbat gebrochen, Speise- und Reinheitsgebote missachtet, das alttestamentliche Scheidungsrecht aufgehoben und auch mit ausdrücklichen Worten das Gesetz für ungültig erklärt. Ich habe in meinem Buch über Jesus versucht zu zeigen, dass alle diese Vorstellungen sich bei genauerem Hinsehen als sehr fraglich erweisen. Und dass die Vorstellung, Jesus habe mit dem jüdischen Gesetz gebrochen, möglicherweise nur ein Missverständnis ist, wenn auch ein lang gehegtes und vielen lieb gewordenes. Viele Leser haben mir daraufhin erwidert: Das mag ja im Blick auf Jesus stimmen. Aber spätestens bei Paulus ist es dann doch anders. Wirklich? Ich werde in einem späteren Kapitel ausführlicher auf diese Frage eingehen. Viele jüdische Autoren, die sich mit dem Neuen Testament und mit Paulus beschäftigen, kommen nämlich mittlerweile zu einer anderen Überzeugung. Nämlich, dass es ebenso schwer ist, einen Keil zwischen Paulus und Moses zu treiben wie zwischen Jesus und Moses. Oder zwischen Jesus und Paulus. Denn tatsächlich wären sich Jesus und Paulus dann auch in diesem Punkt wieder einig – nur eben anders als bisher angenommen: Denn sie beide wären als Juden dem Gesetz treu geblieben und hätten keinen Anlass gesehen, es zu brechen oder abzuschaffen. Der „Paulus-Jakobus-Keil“ Dieser Keil hängt eng mit dem vorigen zusammen. Er funktioniert nur etwas anders: Wenn man sowohl den Paulus-Moses-Keil („Paulus brach mit dem jüdischen Gesetz“) als auch den Paulus-Jesus-Keil („Jesus war gesetzestreu, Paulus aber nicht“) konsequent anwendet, dann stellt sich die Frage: Gab es nicht auch Jesus-Anhänger, die Jesus treuer blieben als Paulus, auch in der Frage der Gesetzestreue? Und in der Tat, die frühe Bibelforschung hat eine solche Gruppe im Neuen Testament identifiziert: Die sogenannten „Judenchristen“, als deren wichtigsten Anführer man Jakobus ansah, den Bruder von Jesus. Man unterschied also zwischen „Judenchristen“ wie Jakobus und „richtigen Christen“ wie Paulus, also solchen, die man allenfalls noch als „ehemalige Juden“ bezeichnen konnte. Der Hauptunterschied: Beide Gruppen glaubten zwar an Jesus und an das Evangelium, aber „Judenchristen“ hielten sich außerdem weiterhin an die Gebote der Tora. Als Erfinder des „Paulus-Jakobus-Keils“ kann wohl der Tübinger Bibelforscher Ferdinand Christian Baur (1792–1860) angesehen werden. Er gilt als Gründer der sogenannten „Tübinger Schule“, die bis heute für das Paulusbild vieler Christen prägend ist, auch wenn viele seiner Theorien inzwischen längst im Staub der Geschichte zerfallen sind: Baur und seine Schüler konstruierten nämlich die gesamte Geschichte des Urchristentums als einen erbitterten theologischen Flügelkampf zwischen Heidenchristen (vertreten durch Paulus) und Judenchristen (vertreten durch Jakobus und Petrus). Die beiden Flügel entwickelten sich dabei mit der Zeit immer weiter auseinander: Von Jakobus und Petrus aus führte eine direkte Linie zu den später als Sekte und als Irrlehrer verurteilten judenchristlichen Gruppen der Nazarener und Ebioniten, von denen die Kirchenväter des 2. und 3. Jahrhunderts berichten. Von Paulus aus führte dagegen eine ebenso direkte Linie zum „Erz-Ketzer“ Markion, der in der Mitte des zweiten Jahrhunderts das Alte Testament abschaffen und alle Schriften des Neuen Testaments von jüdischen Rückständen bereinigen wollte. Die christliche Kirche habe sich, so Baur, von beiden Extremen losgesagt und stattdessen einen gesunden Mittelweg gewählt, bei dem das Alte Testament zwar beibehalten, die darin enthaltenen Gesetze aber für abgeschafft und ungültig erklärt wurden. Zur Zeit des Neuen Testaments sei dieser Streit aber bei Weitem noch nicht entschieden gewesen: Wer genau zwischen den Zeilen lese, entdecke überall die Spuren dieses Konfliktes, der die frühe Christenheit nicht nur an den Rand der Zerreißprobe geführt, sondern sie schlussendlich tatsächlich zerrissen habe. So berichte Apg 15 zwar von einem Versuch, die Differenzen zwischen Paulus und Jakobus durch ein „Apostelkonzil“ zu kitten. Dass dieser Versuch jedoch am Ende gescheitert sei, zeige der weitere Verlauf der Geschichte. So berichte Paulus in Galater 2,11-14 von einem heftigen Streit zwischen ihm und Petrus, aber nicht mehr davon, wie dieser beendet wurde. In der Apostelgeschichte werde zwar ab Kapitel 16 weiter von Paulus erzählt, Petrus aber werde mit keiner Silbe mehr erwähnt. Paulus berichte zwar in vielen seiner Briefe, dass er eine Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem einsammeln wolle, aber in der Apostelgeschichte werde nirgendwo berichtet, dass diese am Ende auch von der Gemeinde in Jerusalem angenommen wurde. Aus all dem schloss Baur, dass es nach dem Apostelkonzil zu einem endgültigen Bruch zwischen der „Paulus-Fraktion“ und der „Jakobus-Fraktion“ kam, der auch nicht wieder geheilt werden konnte. Und eine große Zahl von Bibelforschern folgt ihm bis heute in dieser Ansicht. Zwar würden die wenigsten heute den Flügelkampf zwischen Paulus und Jakobus noch so extrem zeichnen wie im 19. Jahrhundert. Aber in den Köpfen vieler Bibelleser geistert der „Paulus-Jakobus-Keil“ oder die Unterscheidung zwischen „Judenchristen“ und „normalen Christen“ bis heute herum und prägt ihr Verständnis der Bibel. Ein frischer Blick in die Texte jedoch kann helfen, Vorurteile zu korrigieren. Ich werde später noch ausführlicher auf den Streit zwischen Petrus und Paulus im Galaterbrief eingehen und zeigen, dass man die genannten Texte auch ganz anders lesen kann. Aber wer neugierig ist, dem empfehle ich schon jetzt einmal Apg 15,1-21 aufzuschlagen: Schon eine oberflächliche Lektüre zeigt, dass dort nicht etwa Paulus auf der einen Seite und Jakobus und Petrus auf der anderen Seite des Streites stehen. Im Gegenteil: Jakobus und Petrus treten hier ausdrücklich zusammen mit Paulus auf und vertreten seine Meinung. Die Gegenpartei wird nicht namentlich erwähnt, es sind „einige von der Partei der Pharisäer, die gläubig geworden waren“.29 Schon hier entpuppt sich also die vermeintliche Meinungsverschiedenheit zwischen Paulus und Jakobus über die Frage der Beschneidung als ein Fantasieprodukt der frühen Forschung, die im Bibeltext keinen Anhalt hat. Es gibt aber auch sonst bei genauerem Hinsehen im Neuen Testament keine Hinweise für eine Meinungsverschiedenheit zwischen Paulus und Jakobus im Blick auf das jüdische Gesetz. Allerdings zeigen die gegensätzlichen Formulierungen in Röm 3,28 und Jak 2,24, dass man die Begriffe „Glaube“, „Werke“ und „gerecht sein“ in der frühen Gemeinde durchaus unterschiedlich füllen und gebrauchen konnte. Der Sache nach ist jedoch auch hier nichts Gegensätzliches gemeint. Dazu aber ebenfalls später mehr. Der „Paulus-Lukas-Keil“ Ein vierter Keil, der gerne angewendet wird, um das Bild eines unjüdischen Paulus zu stärken, ist der „Paulus-Lukas-Keil“. Er ist selten bei einfachen Bibellesern zu finden, dafür aber umso häufiger bei solchen, die Theologie studiert haben oder lehren. Worum geht es also? Es geht darum, dass man einen deutlichen Unterschied sieht zwischen dem Bild, das Paulus in seinen eigenen Briefen von sich selbst zeichnet, und dem Bild, das die Apostelgeschichte von ihm malt. Demnach sei Paulus in seinen eigenen Briefen vor allem kritisch gegenüber dem Judentum, während er in der Apostelgeschichte weithin als gesetzestreuer Jude erscheine. Der „echte Paulus“ aber sei nur in seinen Briefen zu finden, der „lukanische Paulus“ dagegen sei ein geschöntes Bild aus späterer Zeit. Auch dieser Keil geht letztlich auf die Hypothesen der „Tübinger Schule“ zurück: Hier wurde nämlich die Apostelgeschichte als eine sehr späte Schrift angesehen, mit der die Kirche im 2. Jahrhundert versuchte, die gegensätzlichen „ebionitischen“ und „markionitischen“ Tendenzen zu überwinden: Die Apostelgeschichte zeichne daher ein harmonisches Bild der Urgemeinde, in der die tatsächlichen Konflikte geistlich übertüncht wurden: Nur deshalb trete Jakobus in Apg 15 als Verteidiger des Paulus auf. Und nur deshalb werde Paulus in Apg 21 als gesetzestreuer Jude dargestellt, der den Tempel besucht und jüdische Reinheitsvorschriften einhält. Mit anderen Worten: Die Berichte der Apostelgeschichte sind eine späte Erfindung, der man nicht trauen kann, weil sie nicht von Paulus selbst stammt und auch nicht von einem frühen Augenzeugen, sondern von einem unbekannten Christen des zweiten Jahrhunderts, der eine deutliche Tendenz verfolgte: Den „Paulus-Jakobus-Keil“ zu überwinden. Leider ist ihm das nicht gelungen: Denn heute werden beide Keile, der „Paulus-Jakobus-Keil“ und der „Paulus-Lukas-Keil“ munter Seite an Seite angewendet, um den vermeintlichen „echten“ Paulus freizulegen und ihn von allen anderen Christen der frühen Gemeinde zu isolieren. Nun kann man natürlich zum einen die Frage stellen, ob es denn wirklich stimmt, dass die Selbstdarstellung eines Menschen immer so viel zuverlässiger und unvoreingenommener ist als die Fremddarstellung. Und ob das Bild, das wir selbst von uns haben, denn wirklich immer so viel zutreffender ist als das, was andere über uns sagen. Mit anderen Worten: Selbst wenn es deutliche Unterschiede zwischen dem Paulusbild der Briefe und dem Paulusbild der Apostelgeschichte gäbe, warum sollten dann die Briefe „echter“ sein als die Apostelgeschichte? Als kritisch denkender Mensch müssen wir bei beiden Darstellungen davon ausgehen, dass sie nicht von Einseitigkeiten und Tendenzen frei sind. Aber wie im richtigen Leben können wir auch hier genau hinhören und versuchen herauszufinden, was hinter dem persönlich gefärbten Bild für uns noch an echter Realität erkennbar wird. Bevor wir uns also der Frage zuwenden, wie groß denn wirklich der Unterschied zwischen Paulus und Lukas im Einzelnen ist, ist es deshalb nötig, noch einen Zwischenschritt zu gehen und zunächst einmal nach der Art und dem Wesen der Quellen zu fragen, die uns über Paulus Auskunft geben: Woher wissen wir eigentlich von Paulus, welchen Wert haben unsere Quellen und welchen Grund haben wir, den neutestamentlichen Darstellungen zu vertrauen oder zu misstrauen? Darum soll es im folgenden Kapitel gehen.
Kapitel 1 Paulus: Alte und neue PerspektivenEine EinführungVor drei Jahren habe ich in meinem Buch über Jesus, den Juden, viele meiner Erfahrungen und Entdeckungen in der Begegnung zwischen Christen und Juden beschrieben. Nun folgt ein weiteres Buch über einen berühmten Juden des ersten Jahrhunderts: Paulus. Pharisäer und Missionar, Christenverfolger und Gemeindegründer, Handwerker und Schriftsteller. Autor der ältesten uns bekannten christlichen Schriften. Und ein Jude aus tiefster Überzeugung.Aber genau hier beginnt schon die Frage: War Paulus denn wirklich ein Jude? In gleicher Weise wie Jesus? Und blieb er es bis zum Ende seines Lebens? Oder hat Paulus nicht doch irgendwann die Grenzen des jüdischen Glaubens verlassen, um sich einem neuen Glauben zuzuwenden? In diesem Buch möchte ich dieser Frage nachgehen.Ein Experiment Dieses Buch ist kein Lehrbuch über Paulus. Keine umfassende Darstellung seines Lebens, keine Zusammenfassung seiner Theologie. Es gibt bereits viele gute Bücher, die sich dieser Aufgabe gewidmet haben.1 In meinem Jesus-Buch habe ich den Fehler gemacht, das nicht deutlich genug und gleich am Anfang gesagt zu haben. So gab es viele Leser, die in dem Buch Wichtiges vermisst haben, was auch noch über Jesus hätte gesagt werden müssen, um das Bild abzurunden. Natürlich kann man über Jesus mehr sagen, als dass er ein Jude war. Und über Paulus auch. Darum soll es aber in diesem Buch nicht gehen. Ich möchte vielmehr zu einem Experiment einladen. Zu einem Experiment, dessen Ausgang für mich, das gebe ich ehrlich zu, selbst noch nicht feststeht. Das Experiment lautet: Wie ändert sich mein Bild von Paulus, wenn ich ihn nicht durch die gewohnte Brille meiner christlichen Tradition betrachte, sondern durch die Brille des jüdischen Glaubens? Was kann ich lernen, wenn ich auf die Stimmen jüdischer Forscher und Ausleger höre, die Paulus oft so ganz anders sehen und verstehen als ich? Wie klingen die Briefe des Paulus, wenn ich sie neben die Schriften der jüdischen Rabbinen und der Rollen vom Toten Meer lege? Klingt dann vielleicht manches, was mir bisher vertraut war, ganz anders? Und ist es möglich, Paulus als einen Juden zu verstehen, der das Judentum zeit seines Lebens nicht verlassen hat? Der festhielt am Glauben seiner Väter, am Gesetz des Moses, am Tempel in Jerusalem, an der Hoffnung auf den Messias? Und der dennoch diesen Glauben auch mit denen teilen wollte, die keine Juden waren?Ehrliche Fragen - offene AntwortenIch gebe zu, dass ich selbst noch nicht auf alle diese Fragen Antworten gefunden habe. Und dass ich noch nicht weiß, wohin dieser Weg führt, wenn man ihn einmal einschlägt. Aber ich möchte ihn neugierig gehen und Sie einladen, mich zu begleiten. Denn so viel kann ich jetzt schon sagen: Im Blick auf Jesus gab es für mich so viel Neues, Interessantes und Überraschendes zu entdecken, nachdem ich angefangen hatte, ihn durch die Augen jüdischer Kollegen, Freunde und Autoren zu sehen. Ich bin daher davon überzeugt, dass es bei Paulus ähnlich viel zu entdecken gibt. Aber ich habe inzwischen auch gelernt, dass die Forschung im Blick auf Paulus noch weit unausgereifter, die Meinungen deutlich geteilter und die Emotionen merklich angespannter sind als bei der Frage nach Jesus. Paulus ist nicht nur innerhalb der Christenheit, sondern auch zwischen Juden und Christen umstrittener als Jesus. Aber genau das macht mich neugierig. Neugierig, den Weg weiterzugehen, den ich bei Jesus begonnen habe. Aber ich möchte ihn fragend gehen. Suchend, bereit, Neues zu entdecken und aus Fehlern zu lernen. Neues aus der Welt der PaulusforschungNicht alles ist dabei unsicher: Die neuere Forschung zu Paulus und seiner jüdischen Welt hat in den letzten Jahrzehnten jede Menge guter, interessanter und neuer Einsichten erbracht, die in der wissenschaftlichen Welt inzwischen zum Allgemeinwissen gehören. Viele davon sind aber bisher nur in Fachbüchern zu finden, die für Nicht-Theologen schwer zugänglich sind. Mit diesem Buch mö
Erscheinungsdatum | 01.09.2016 |
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Sprache | deutsch |
Maße | 125 x 187 mm |
Gewicht | 409 g |
Einbandart | gebunden |
Themenwelt | Religion / Theologie ► Christentum ► Moraltheologie / Sozialethik |
Schlagworte | Apostel • Bibel • Christentum • Christliches Leben und christliche Praxis • Christliche Traditionen • Frühchristentum / Frühes Christentum • Judenchrist • Judentum • Judentum: Leben und Praxis • jüdischer Dialog • Paulus • Paulus (Apostel) • Religiöses Leben und religiöse Praxis • Sozial- und Kulturgeschichte • Spiritualität und religiöse Erfahrung • Theologie |
ISBN-10 | 3-86827-617-3 / 3868276173 |
ISBN-13 | 978-3-86827-617-6 / 9783868276176 |
Zustand | Neuware |
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