Kinder in Armut (eBook)
144 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-82922-2 (ISBN)
Michael Klundt ist Professor für Kinderpolitik im Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Michael Klundt ist Professor für Kinderpolitik im Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
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Ausmaß und Erscheinungsformen von Kinderarmut
Wie viele Kinder sind eigentlich in Deutschland von Armut betroffen und wie nehmen wir im Allgemeinen deren Zustand wahr? Das folgende Kapitel untersucht zunächst das Ausmaß und die Erscheinungsformen sozial polarisierter Kindheiten. Es beweist auch die Relevanz von Wissenschaften, weil sie in vielerlei Dingen aufzeigen können, dass die Erscheinungsform(en) und das Wesen bzw. der soziale Inhalt von Sachverhalten nicht notwendigerweise identisch sind. Das gilt übrigens auch für das subjektive Selbstverständnis bezüglich Haltungen und Handlungen im Verhältnis zur objektiven Funktion dieser Ansichten und Artikulationen. Wer wissen möchte, wie sich Armut „anfühlt“, hat seit Jahren die Möglichkeit, die empirische Forschungsliteratur zu bemühen (vgl. z.B. Chassé/Zander/Rasch 2010), die von der Nationalen Armutskonferenz (NAK) herausgegebenen Betroffenen-Berichte zu studieren (vgl. z.B. NAK 2018) oder seit einiger Zeit im Internet unter #ichbinarmutsbetroffen kurze Beiträge von Betroffenen über ihren Alltag und ihre Lebensrealität kennenzulernen, die für viele Menschen als eigentlich undenkbare Verhältnisse in dem doch so reichen Deutschland erscheinen.
Sich mit einer Thematik auseinanderzusetzen, erfordert somit zunächst einmal, sie wirklich wahrzunehmen und nicht zu verharmlosen oder zu verleugnen. Die Anerkennung der Existenz der Betroffenen als ganz „normale“ Menschen kann dabei als erster Schritt gesehen werden. Wie im folgenden Exempel gezeigt wird, ist dies für viele Menschen und auch für viele Professionelle keineswegs selbstverständlich.
„,Bei uns gibt es so etwas nicht, wir haben keine armen Kinder. Bei uns sind nur ganz normale Kinder‘, sagt die Kitaleiterin eines katholischen Familienzentrums, das im Schatten eines Hochhauskomplexes liegt, und lehnt am Telefon den Wunsch nach einem Interview zum Thema armutsbetroffene Kinder ab“ (Iglesias/Wolter-Buhlmann 2019, S. 4).
Dass Armut im Allgemeinen jedoch seit Jahren in Deutschland vorkommt und sogar gravierende Ausmaße angenommen hat, zeigt der Armutsbericht 2022 des Paritätischen Gesamtverbandes. Danach „hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemiejahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Inflation mit einer weiteren Verschärfung der Lage und appelliert an die Bundesregierung, umgehend ein weiteres Entlastungspaket auf den Weg zu bringen, das bei den fürsorgerischen Maßnahmen ansetzt: Grundsicherung, Wohngeld und BAföG seien bedarfsgerecht anzuheben und deutlich auszuweiten, um zielgerichtet und wirksam Hilfe für einkommensarme Haushalte zu gewährleisten“ (Pressemitteilung Parität 2022). Einen Überblick zum allgemeinen Armuts-Ausmaß unter allen Bewohnerinnen und Bewohnern in den Bundesländern gibt die Karte aus dem Armutsbericht 2022 des Paritätischen Gesamtverbandes (Abb. 1).
Abb. 1: Armutsbericht 2022
Quelle: Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband (2022): Zwischen Pandemie und Inflation. Paritätischer Armutsbericht 2022, Berlin, S. 16.
Anhand der dort aufgetragenen Armutswerte lässt sich erkennen, dass es nicht nur zwischen Stadt-Staaten und Flächenstaaten und nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschland große Differenzen gibt, sondern mittlerweile auch zwischen Norden und Süden.
In einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zu aktuellen Zahlen über Kinderarmut vom März 2022 wird der Umfang der Kinderarmut in Deutschland mit der folgenden Tabelle des Statistischen Bundesamtes durch die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Kramme illustriert (Abb. 2). Aus den darin enthaltenen Zahlen geht hervor, dass in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich etwa jedes fünfte Kind und jede/r fünfte Jugendliche von Armut(srisiken) betroffen sind.
Abb. 2: Armutsgefährdungsquoten1) von unter 18-Jährigen in Deutschland und nach Bundesländern in Prozent gemessen am Bundes- und Landesmedian 2020
| 2 0 2 0 |
| Bundesmedian | Landesmedian |
| in % |
| Deutschland Bundesländer | 20,2 | – |
| Baden-Württemberg | 15,8 | 18,8 |
| Bayern | 12,2 | 15,9 |
| Berlin | 26,1 | 24,0 |
| Brandenburg | 16,8 | 15,8 |
| Bremen | 42,0 | 28,0 |
| Hamburg | 21,0 | 22,3 |
| Hessen | 23,2 | 23,8 |
| Mecklenburg-Vorpommern | 24,4 | 17,2 |
| Niedersachsen | 23,0 | 22,2 |
| Nordrhein-Westfalen | 23,2 | 23,1 |
| Rheinland-Pfalz | 20,2 | 20,4 |
| Saarland | 21,6 | 20,8 |
| Sachsen | 21,1 | 14,7 |
| Sachsen-Anhalt | 26,2 | 20,1 |
| Schleswig-Holstein | 20,3 | 21,0 |
| Thüringen | 21,7 | 15,9 |
Ergebnisse des Mikrozensus; Hochrechnung der fortgeschriebenen Ergebnisse des Zensus 2011.
1) Anteil der Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten am Ort der Hauptwohnung. Das Äquivalenzeinkommen wird auf Basis der neuen OECD-Skala berechnet.
Quelle: Kramme, Annette (2022): Antwort der Parlamentarischen Staatsekretärin auf die Schriftliche Frage des Bundestagsabgeordneten Dr. Dietmar Bartsch im März 2022 zum Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland. Arbeitsnummer 039. Berlin.
Da Kinderarmut in Deutschland heute, wie gesagt, Armut in einem der reichsten Länder dieser Erde bedeutet, geht es in der Regel weniger um absolutes Elend und Verhungern, sondern mehr um Entbehrungen, Ausgrenzungen und Benachteiligungen im Verhältnis zum allgemeinen gesellschaftlichen Lebensstandard. Dabei können sich Diffamierungen und Stigmatisierungen sogar noch schmerzhafter als materielle Einschränkungen auswirken. Dennoch darf nicht vergessen werden, wie viele Hunderttausende Menschen inzwischen wieder in Deutschland wohnungs- oder obdachlos sind (laut Tagesschau.de v. 11.11.2019 über 678.000 Menschen, darunter um die 37.000 Jugendliche) und wie viele Menschen vom Flaschensammeln, Betteln oder von Tafeln leben müssen (vgl. Mehr als zwei Millionen Menschen suchen Hilfe bei der Tafel, in: Zeit.de v. 14.07.2022). Hunderttausende teilsanktionierte ALG II-Bezieher/innen und Zehntausende vollsanktionierte Hartz IV-Empfänger/innen (deren Grundsicherungsleistungen zu einem gewissen Anteil gekürzt oder vollständig gestrichen werden, um sie für ein Fehlverhalten zu bestrafen), darunter viele Jugendliche und Familien mit Kindern, für die tatsächlich absolute Armut – die Sorge um ein Dach über dem Kopf oder um Licht und Wärme in der Wohnung, Hunger, Mangel an Kleidung und medizinischer Versorgung – zum täglichen existenziellen Überlebenskampf gehören, werden seit Jahren allzu oft ignoriert. Etwa 80.000 Minderjährige lebten z.B. 2018 in teilsanktionierten ALG-II-Haushalten, und über 5.000 Kinder mussten ertragen, dass ihre sog. Bedarfsgemeinschaft vollsanktioniert wurde (d.h. die Grundsicherungsleistungen wurden zu 100 Prozent gekürzt; vgl. Tagesspiegel.de v. 21.11.2019).
1.1 Wahrnehmung von und Haltung zu Armut sowie Ungleichheit
Die Wahrnehmung und Bearbeitung von sozialer Ungleichheit und Armut in frühkindlichen Bildungseinrichtungen ist entscheidend für die Entwicklung und das Wohl vieler Kinder. Eine völlige Ignoranz der Problematik, wie im oben zitierten Beispiel, ist dabei in den letzten Jahren eher in den Hintergrund getreten. Stattdessen referieren viele Fachkräfte Standardsituationen in der Kita, die auf Unterversorgung des Kindes in verschiedenen Bereichen schließen lassen: Nicht wettergerechte Kleidung, oft morgens sehr hungrig; immer wieder Nahrung einsteckend und nach Hause mitnehmend. Eine erst mal nachvollziehbare, häufige und geläufige Reaktion einiger Fachkräfte besteht dann oft darin, ihr Unverständnis darüber kundzutun, da in anderen Marken- und Technikdingen das betroffene Kind und/oder seine Eltern oft recht gut ausgestattet zu sein scheinen. Die daraus manchmal abgeleitete vermutete Fehlversorgung wird dann gelegentlich mit dem Vorwurf mangelnder Elternkompetenz verbunden. In jedem Fall führt diese Herangehensweise erst mal dazu, dass die Probleme sozialer Ungleichheit und Armut individualisiert und den Betroffenen selbst zugeschrieben werden. Sie, die Eltern, sind...
| Erscheint lt. Verlag | 27.2.2023 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Vorschulpädagogik |
| Schlagworte | Armut • Ausgrenzung • Bildung • Bildungschancen • Diskriminierung • Gerechtigkeit • Kinderarmut • Kinderrechte • Kinder- und Jugendhilfe • Kita • Menschenrechte • Soziale Arbeit • Soziale Schichten • Teilhabe • Ungleichheit |
| ISBN-10 | 3-451-82922-3 / 3451829223 |
| ISBN-13 | 978-3-451-82922-2 / 9783451829222 |
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