Saugut und ein wenig wie wir (eBook)
272 Seiten
Westend Verlag
978-3-86489-853-2 (ISBN)
Vom Wesen und den Geheimnissen der Schweine
Das Schwein ist ein Glückssymbol, doch es steht auch als Metapher für alles, was dreckig, ungehörig und sündhaft ist. Das Schwein wird ausgestoßen, oder besser gesagt, eingepfercht und sorgfältig vor den Blicken der Menschen verborgen. Gleichzeitig ist das Schwein ein unschätzbares Modell für den menschlichen Körper, wie die jüngste Transplantation eines Schweineherzens beweist. Kristoffer Hatteland Endresen ist dem Wesen und den Geheimnissen des Schweins auf den Grund gegangen. Er hat einen Wurf von der Geburt bis zur Schlachtung begleitet und berichtet schonungslos ehrlich über seine Erlebnisse. Das Ergebnis ist eine Geschichte über Appetit und Abneigung, Fleisch und Moral und über die Frage, wo eigentlich die Trennlinie zwischen Mensch und Tier verläuft.
Kristoffer Hatteland Endresen, geb. 1983, ist Historiker und Journalist. Er hat u. a. im Aftenposten, Dagen naeringsliv and Stavanger Aftenblad publiziert. Außerdem hat er Politikwissenschaften, Literatur und Sprache studiert.
Eine unmögliche Begegnung
Wahrscheinlich hat sich der Mensch schon immer ein Stück weit im Schwein wiedererkannt.
Vor 44 000 Jahren stand ein Mensch in einer Höhle im heutigen Indonesien und zeichnete mit einem roten Sandstein ein Bild an die Felswand. Kein Zweifel, er hatte einen Plan, doch als er zurücktrat, um sein Werk zu begutachten, war er selbst überrascht. Zum ersten Mal hatte er die Striche zu einem erkennbaren Motiv zusammengefügt. Die älteste bekannte figürliche Zeichnung der Menschheitsgeschichte stellt ein Schwein dar.1
Man nimmt an, dass die frühen paläolithischen Kunstformen geistige oder rituelle Hintergründe haben. Das Schwein in der indonesischen Höhle ist somit das älteste Zeugnis abstrakten Denkens. Anders ausgedrückt: Wenn es die Fähigkeit zum abstrakten Denken ist, die Mensch und Tier unterscheidet, dann ist die Felszeichnung eines Schweines der älteste bekannte Ausdruck des Menschseins.
Vielleicht war dies Winston Churchill bewusst, als er viele Jahrtausende später sagte: »Hunde sehen zu dir auf, Katzen sehen auf dich herab. Gib mir lieber ein Schwein – es sieht dir in die Augen und behandelt dich als gleichwertig.«2 Wie alt und stark unsere Verbindung auch sein mag, sie hat dem Schwein nicht viel geholfen, denn das Verhältnis zwischen Mensch und Schwein war meist von Verachtung geprägt.
Lange bevor die religiösen Schriften Juden und Muslimen den Genuss von Schweinefleisch verboten, war das Schwein im Nahen Osten eine ausgestoßene Spezies. Auch Jesus hatte nicht viel für sie übrig. Er erhob das Lamm zum Symbol der Unschuld und verdammte das Schwein als dämonisch. Diese Abscheu spiegelt sich bis heute in unserer Sprache, in der das Schwein zu einer Metapher des Vulgären, Schändlichen und Sündhaften geworden ist.
Niemand möchte als »Schwein« oder »Sau« betitelt werden. Noch schlimmer ist ein »altes Schwein«, weil dies ein langes Sündenregister impliziert. Wird man hingegen als »Ferkel« bezeichnet, lässt sich dem meist durch eine bessere Hygiene entgegenwirken. Die Liste ließe sich lange fortsetzen, und alle »schweinischen« Ausdrücke hängen mit der jahrtausendelangen Stigmatisierung der Art Sus scrofa domesticus (Hausschwein) zusammen, auch die »armen Schweine«. Jesus trieb eine riesige Schweineherde zum kollektiven Selbstmord, weil er einer Legion von Dämonen erlaubte, in sie zu fahren. Die 2 000 Tiere stürzten sich panisch in den See Genezareth.3
Etwa 2 000 Jahre später traf ein scheinbar nebensächlicher Zeitungsartikel auf meinem Facebook-Konto ein. Die Überschrift lautete »Mehr Schweine als Menschen in Rogaland«.4 In besagter Provinz liegt die Anzahl beider Spezies jeweils knapp unter einer halben Million.
Damals wohnte ich in Oslo und hatte wenig Bezug zu meiner Heimat Jæren. Trotzdem dachte ich: »Das kann doch nicht sein.« Warum hatte ich dort nie ein Schwein gesehen? Zwar stamme ich aus der urbanen Gegend um Stavanger, doch war ich mein Leben lang durch Jæren gefahren und gewandert. In meiner Erinnerung war die Landschaft durch viele Tiere geprägt, doch Schweine gehörten nicht dazu. Ich kannte sie nur aus Tiergärten oder Besuchshöfen, ein wirkliches Schwein, das in die Statistik der industriellen Fleischproduktion eingeht, hatte ich nie zu Gesicht bekommen.
Die Erkenntnis kam zu einer Zeit, in der ich mit großer Leidenschaft Stunden am Herd verbrachte und mir einbildete, ich könne ebenso gut werden wie die großen Köche, deren Bücher ich verschlang. Keiner beschrieb das Gefühl, in ein knuspriges Stück Schwarte zu beißen, besser als Anthony Bourdain (Friede seiner Asche). Er hatte mir die Augen dafür geöffnet, dass es Schweinefleisch auch jenseits von trockenen Koteletts und wässrigen Würstchen gab. Es wurde zu meiner liebsten Fleischsorte – worin Bourdain und ich keineswegs alleine waren.
Schon zu Beginn unserer Zeitrechnung bemerkte Plinius der Ältere: »Von keinem andern Thiere hat sich die Freßsucht mehreren Stoff erdacht: man macht daraus fast dreysigerley Geschmacksarten, da sonst jedem Thiere nur eine eigen ist«.5 »A wonderful, magical animal!«, ruft Homer Simpson aus, nachdem seine Tochter Lisa ihm erklärt, wie viele seiner Lieblingsgerichte vom Schwein kommen.6 Für viele ist Speck die kulinarische Krönung unzähliger Mahlzeiten, er ist das »Gewürz des Lebens«, wie die dänischen Fernsehköche James und Adam Price sagen. Ganz zu schweigen von den karamelligen Aromen eines langsam im Ofen gebackenen glasierten Schweinenackens, der mit zwei Gabeln zu Pulled Pork zerkleinert und im eigenen Saft geschwenkt wird. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal das zarte, saftige Fleisch mit gleichen Teilen Krautsalat in einen Brioche legte.
Bourdain weilt nicht mehr unter uns, und diese Zeiten sind vorbei. Ich habe es aufgegeben, meinen Speck selbst zu pökeln, und kaufe nur selten Fleisch, das eine lange, komplizierte Zubereitung braucht. Gefangen in neuen Verpflichtungen lebe ich wieder im Zeitalter der Würstchen, und bei jedem Kindergeburtstag muss ich vorher überlegen, wie viele Halal-Würste ich für die Feier brauche. Als Versorger eines großen Haushalts ist der Verzehr von Schweinefleisch zu einer wirtschaftlichen und logistischen Angelegenheit geworden. Tag für Tag wird der Kühlschrank mit abstrahiertem Schwein in Form von gekochtem Schinken, Wurst, Leberpastete, Bacon und mehr gefüllt. Kaum ein Tag vergeht ohne ein Industrieprodukt aus Schweinefleisch und anderen Zutaten.
Unsere Ernährung hat seit den 1950er Jahren eine wahre Fleischrevolution durchgemacht. 1980 verspeisten wir noch 53 Kilogramm Fleisch pro Kopf, im Rekordjahr 2012 waren es 76 Kilogramm. Während die Rindfleischproduktion in den letzten Jahrzehnten langsam und gleichmäßig anstieg, betrifft der rapide Konsumanstieg hauptsächlich Tierarten, die wir selten im Freien sehen, nämlich Schweine und Geflügel.7
Das Schwein bleibt mit Abstand das beliebteste Schlachtvieh in Norwegen. Berechnet nach unserem aktuellen Fleischkonsum werden wir bis an unser Lebensende 30 ganze Schweine verzehrt haben. Ein durchschnittliches Schlachtschwein wiegt ungefähr 100 Kilogramm, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten und der Bauch aufgeschlitzt wird. Dürfte es auswachsen, würde es an die 300 Kilogramm erreichen. Während ich dies schreibe, leben in Norwegen ungefähr 1,6 Millionen Schweine in industriellen Mastbetrieben. In Dänemark beträgt die Anzahl 29 Millionen, und in der ganzen Welt knapp eine Milliarde.8 Somit war Schweinefleisch in den letzten 50 Jahren die mit Abstand meistverzehrte Fleischsorte der Welt.
Wie kann eine Industrie diesen Ausmaßes, die auf lebendigen Tieren solcher Größe beruht, für uns völlig unsichtbar sein? Was hat dies mit uns getan – und was mit den Tieren?
Bereits 1977 beschrieb der britische Schriftsteller und Kritiker John Berger, was mit uns geschieht, wenn der Kontakt zu Nutztieren aus dem Alltag verschwindet. In dem Essay »Why look at animals?« behauptet er, dass wir genau aus diesem Grund kein Verhältnis mehr zu Tieren als Nahrungsquelle haben.9 Früher war dieses Verhältnis durch häufigen Augenkontakt zu den Tieren bestimmt. In ihren Augen erkannten wir sowohl uns selbst als auch die Kluft zwischen Mensch und Tier, und genau dieser Dualismus machte unser Verhältnis komplex und gleichzeitig sicher. Wir ehrten und schlachteten sie. Mit der Industrialisierung wurde das Band durchtrennt. Die Menschen zogen in die Städte, während die Tiere in immer weniger und dafür größeren Zuchtbetrieben auf dem Land verblieben. Mit dem Augenkontakt verschwand auch die Verknüpfung von Ehren und Schlachten aus unseren Köpfen.
»Fleischverzehr in Deutschland«
In Deutschland wurde pro Kopf im Jahr 2012 etwa 60 Kilogramm Schweinefleisch gegessen.10 Die Tendenz ist sinkend und lag 2020 bei etwa 57 Kilogramm.11
Entgegen diesem Trend ist die Schweinefleischproduktion in den letzten Jahren stark gestiegen. Wurden 1994 noch 3 603 990 Tonnen produziert, waren es 2020 bereits 5 107 600 Tonnen.12
Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 83,4 Jahren (für neugeborene Mädchen/Sterbetafel 2018/2020) werden im Laufe des Lebens etwa 50 Schweine verzehrt (bei dem oben angegebenen durchschnittlichen Schlachtgewicht von 100 Kilogramm).
2021 lebten in Deutschland 10,9 Millionen Schweine in Mastbetrieben.
Der amerikanische Autor und Journalist Michael Pollan hat unsere Essenskultur in vielen Büchern und Artikeln kritisch untersucht. Er behauptet, unsere Haltung gegenüber Tieren sei zu einem Entweder-oder geworden, doch weder idealistische Veganer noch ignorante Fleischesser würden die Komplexität des ursprünglichen Verhältnisses zwischen Mensch und Nutztier begreifen.13
Ich betrachte mich weder als Idealist noch als Ignorant, obwohl meine Essgewohnheiten mich deutlich auf der Seite der Fleischesser verorten. Nun ist seit Bergers und Pollans Essays einiges geschehen. Die Freilandhaltung und/oder ökologische Haltung von Schweinen kann als Versuch betrachtet werden, das alte Prinzip von Ehren und Schlachten wiederherzustellen. Die Frage ist, wie gut dies gelingt und ob die betreffenden Konsumenten nicht auch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber...
| Erscheint lt. Verlag | 21.2.2022 |
|---|---|
| Übersetzer | Günther Frauenlob, Frank Zuber |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Litt som oss Litt som oss - En fortelling om grisen |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Eine • Geschichte • saugut • Schwein |
| ISBN-10 | 3-86489-853-6 / 3864898536 |
| ISBN-13 | 978-3-86489-853-2 / 9783864898532 |
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