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Conrad Ferdinand Meyer (eBook)

Schatten eines Jahrhunderts. Biografie
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
543 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-8841-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Conrad Ferdinand Meyer -  Philipp Theisohn
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Philipp Theisohn erzählt die Lebensgeschichte C.F. Meyers neu - als Roman einer Epoche, ihrer Sehnsüchte und Ängste. Das Bild, das uns von C.F. Meyer, dem ersten modernen Lyriker deutscher Sprache, geblieben ist, wird durchzogen von Widersprüchen. Hier der realistische Novellist, der versierte Poet, der Nationaldichter. Dort der dekadente Zögling des Zürcher Patriziats, der fromme Sonderling, nicht nur in seinem Konservatismus ein Antipode Gottfried Kellers. Hinter den Masken des Ruhms, schlimmer noch, ein missverstandener Bruder und missratener Sohn, ein kranker Mann, ein Irrenhäusler. Vielleicht ist die Zeit für eine weitere, für eine letzte Erzählung gekommen: Die Erzählung einer literarischen Existenz, die vierzig Jahre lang ohne Werk bleibt, um dann sogleich wieder hinter den Texten zu verschwinden, den eigenen wie den fremden. Die Erzählung einer Krankheit, die sich von Zeile zu Zeile ausbreitet, eine ganze Schreibgemeinschaft befällt und ihre Sinne verdunkelt. Eine Biographie, die uns das 19. Jahrhundert neu verstehen lässt.

Philipp Theisohn, geb. 1974, ist Ordinarius für Neuere deutsche Literatur und Direktor des »Zentrums für literarische Gegenwart« an der Universität Zürich, Herausgeber der Zürcher Ausgabe der Werke Jeremias Gotthelfs und Literaturkritiker (NZZ, FAZ). Veröffentlichungen u. a.: »Denken nach Botho Strauß. Begegnungen in einer anderen Zeit« (2024); »Trakl-Handbuch« (Hg., 2023); »Einführung in die außer- irdische Literatur. Lesen und Schreiben im All« (2022); »Die kommende Dich- tung. Geschichte des literarischen Orakels 1450-2050« (2012); »Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter« (2012); »Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte« (2009); »Die Urbarkeit der Zeichen. Literatur und Zionismus - eine andere Poetik der Moderne« (2005).

Philipp Theisohn, geb. 1974, ist Ordinarius für Neuere deutsche Literatur und Direktor des »Zentrums für literarische Gegenwart« an der Universität Zürich, Herausgeber der Zürcher Ausgabe der Werke Jeremias Gotthelfs und Literaturkritiker (NZZ, FAZ).

I. Das Gespenst auf der Rigi


Das Innerschweizer Hotel »Rigi-Scheideck«, 1840 in der Nähe einiger Mineralquellen errichtet, gehört zu den exquisiteren Tourismuszielen des 19. Jahrhunderts. Nicht nur die vom Alpinismus infizierten Viktorianer machen, wie das Fremdenbuch des Hotels verrät,[1] hoch über dem Vierwaldstättersee Station. Auch die Großbürger des benachbarten Auslands begeben sich regelmäßig zur Kur in die Schweizer Voralpen, unter ihnen der Schriftsteller und Publizist Karl Emil Franzos. Schon die Sommer 1892 und 1894 hat der einflussreiche Herausgeber der Deutschen Dichtung, einer der bedeutendsten Literaturzeitschriften ihrer Zeit, auf der Rigi verbracht, um sich in der Höhenluft von der Hektik Berlins zu erholen.[2] Im Juli 1897 führt ihn sein Weg einmal mehr dorthin – und wider Erwarten trifft er dort auf einen Bekannten:

Ich kam […] gegen Mittag nach Rigi-Scheidegg, ohne Ahnung, daß er oben sei, wie er nicht wußte, daß ich eintreffen würde. Auf dem Bahnhof hörte ich zufällig, daß er in einer halben Stunde abreisen würde, und im Korridor des Hotels begegnete er mir; langsam, gebeugten Haupts kam er daher. Einen Augenblick schwankte ich, dann trat ich rasch bei Seite, daß er mich nicht sehen konnte. Als er’s erfuhr, war er sehr erschüttert: »Das war gut, er hat’s uns beiden ersparen wollen!«[3]

Bei dem begegnungslos davongekommenen Kurgast handelt es sich um Conrad Ferdinand Meyer. Anderthalb Jahre hat der Schweizer Schriftsteller, neben Storm und Fontane zu den wichtigsten Beiträgern der Deutschen Dichtung zählend, da noch zu leben. Mit Franzos, der jene Episode in seinem 1899 abgehaltenen Berliner Nekrolog erzählt, verbindet Meyer in erster Linie eine Arbeitsbeziehung, die sich in einem späten Briefwechsel niederschlägt. Im Mai 1884 hatte ihn der damalige Redakteur der Wiener Neuen Illustrirten Zeitung erstmals kontaktiert und um »einen poetischen Beitrag« für sein »deutsch-österreichisches Blatt, welches kräftig die Pflege des deutschen Culturgedankens vertritt«, gebeten.[4] Meyer hatte daraufhin Franzos offensichtlich Hoffnungen gemacht, dann zunächst nicht geliefert, um ihm dann im Folgejahr zumindest »eine Kleinigkeit« in Form der Ballade Kaiser Sigmunds Ende zu überlassen.[5]

Mit der Gründung der Deutschen Dichtung 1886 beginnt Franzos, seine Bemühungen um Meyer zu intensivieren: »Alles, was Sie mir spenden wollen«, ist ihm für das neue Blatt »höchst willkommen«, und »geradezu als ein Glück« würde er es betrachten, wenn er von ihm »schon zum Beginn eine größere epische Dichtung in Prosa oder Vers erwerben könnte.«[6] Daraus wird erst einmal nichts: Meyer besieht sich den Prospekt der Deutschen Dichtung, wünscht dem »Unternehmen guten Erfolg« und verweist bedauernd auf seine »körperliche Ermüdung«.[7] In der Folge wird er der Zeitschrift jedoch immer wieder Gedichte liefern,[8] später auch nicht ganz folgenlose Erinnerungen an Gottfried Keller und einen ebenfalls bedeutungsvollen Beitrag über seinen »Erstling« Huttens letzte Tage. Zugleich wird er selbst zum Sujet: Die siebte Nummer der Deutschen Dichtung (1889 /90) ist ihm gewidmet, trägt sein Konterfei auf dem Titel und enthält neben einigen Gedichten Meyers auch einen werkbiografischen Aufsatz Adolf Freys. Meyers letzter Beitrag für die Zeitschrift erscheint 1892, es handelt sich um das Wanderlied.

Das alles ist dokumentiert und Literaturgeschichte. Man kann das wissen, es bleibt aber vor allen Dingen Statistik. Aussagekraft allein erlangt die Distanz, die sich zwischen Papier und Person erstreckt, eine Distanz, die Franzos immer wieder vergeblich aufzuheben versucht. Im Juli 1886 hat er es fast geschafft. Er sitzt schon im Zürcher Nobelhotel »Baur au lac«, zu Meyers Kilchberger Residenz ist es nur ein Katzensprung. Da erreicht ihn ein Telegramm aus Walzenhausen: »Bedaure herzlich. Bin hier oben im Kanton Appenzell.«[9] Fünf Jahre später scheitert ein zweites Treffen: Franzos kündigt im Sommer 1891 seinen Besuch in Kilchberg auf einen Donnerstag an und meint damit den 13. August. Meyer, gerade einmal wieder auf der Rigi, sagt per Postkarte zu, meint aber den 20. August, denn er hat Franzos’ Mitteilung erst am 13. August zur Kenntnis genommen. Vom Dichter dafür gewohnt karger Trost: »Das dritte Mal aber wird es gelingen, so hoffe ich.«[10]

»Das dritte Mal« aber, davon ist mit Blick auf Meyers Krankheitsgeschichte auszugehen, dürfte sich nicht vor besagtem Juli 1897 zugetragen haben.[11] Glaubt man Franzos’ Darstellung, dann handelt es sich bei jener Begegnung auf Rigi-Scheidegg somit weniger um ein ›Wiedersehen‹ als vielmehr um eine Epiphanie. Zum ersten Mal, so scheint es, wurde Meyers Schutzschild der Unpässlichkeit durchbrochen: Doch was Franzos dahinter entgegentritt, ist nicht begegnungsfähig, kein Gesprächspartner. Diese Autorschaft muss eine sekundäre bleiben. Auf dem Briefpapier des Hotels, das Meyer bei seinen Aufenthalten zu Korrespondenzzwecken nutzt, ist er nahbarer als auf dessen Korridoren.

So bleibt dann auch die kolportierte Reaktion Meyers nichts als Franzos’ eigene Schrift, ist nirgends sonst verbürgt und nicht allein deswegen schon anzuzweifeln. Tatsächlich scheint sie sich vor allem dem Bemühen des Trauerredners zu fügen, den Verblichenen zu verlebendigen. »[A]uch durch meinen Mund soll, so weit dies irgend möglich ist, er selbst zu Ihnen sprechen«,[12] proklamiert der Redner und unterstellt sich damit einer Rhetorik des maskierten Wortes, deren Subjekt im Dunkeln bleibt. Je ostentativer Franzos Meyers Stimme beansprucht, Figurenzitate für Ausrufe des Autors ausgibt,[13] briefliche Mitteilungen in ›Schreie‹[14] verwandelt oder sich die Augen desjenigen leiht, der Meyer »so in dem schönen Anwesen, in herrlicher Landschaft, mit der trefflichen, ihm seit 1875 angetrauten Gattin, der lieben Tochter hausen sah«[15]: umso deutlicher wird, dass dies alles Projektionen sind. Die Erinnerung an den Dichter beherrscht der Wunsch, ihn zu einem Zeitgenossen zu machen, zu einer Gestalt, in der Leben und Text sich verbinden.

Zwischen Wunsch und Wunscherfüllung tritt freilich das Problem, dass man es hier offensichtlich mit einem Menschen zu tun hat, der darauf besteht, keine Spuren eines Innenlebens zu hinterlassen, keine Heimlichkeiten zu pflegen, ja: mit einem Menschen, der es sich »zum Gesetze gemacht« hat, »kein Wort zu schreiben, noch selbst zu reden, das nicht alle Welt wissen darf«, und der, »außerhalb dieser Sphäre der Loyalität, nicht wohl existieren« kann.[16] Der hermeneutische Stolz derjenigen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die ›Wahrheit‹ dieser Existenz zu bergen, hängt dementsprechend weniger am vermeintlich Geäußerten als am vermeintlich Verschwiegenen, das allein noch deutbar scheint. »Aber über eins sprach er nie, er fürchtete die ›Gespenster‹ – das Schicksal seiner Mutter …«,[17] raunt Franzos, und die Trift der Auslassungspunkte markiert die Spur der okkupatorischen Empathie. Nächstmöglich rückt der Nekromant an ein Wissen heran, das ihm durch den beschworenen Toten einerseits zugänglich wird, vor dem ihn dieser aber andererseits schweigend schützt. Indem er die »Gespenster« beruft, mit denen Meyer verkehrte, wird immer deutlicher, dass der Verstorbene ihm vor allem als Grenzfigur dient: als Wächter am Tor zur Welt der Dämonen. Innerhalb der Kolportage eines miterlebten Schriftstellerdaseins garantiert das Schweigen des Wächters, das natürlich ein beredtes, nämlich zu Dichtung geronnenes Schweigen sein soll, die Begehbarkeit einer Tiefe. Meyer nimmt auf sich, was sich nicht ertragen lässt, ästhetisiert es und lässt es damit für die Erinnerungsgemeinschaft verhandelbar werden. Jenes »Es« aber, dies die Suggestion, ist ein privates »Es«, ist »Schicksal«, »Erbe«, »Fluch«, »Wesen« oder »Krankheit«, ist ein Geheimnis, das so schlecht verwahrt ist, dass alle darum wissen.

Alle, denn Franzos bleibt in seinem Unterfangen nicht allein. Vielmehr spiegelt sich in seinem Nekrolog nur ein weit verbreitetes Begehren nach Meyers »Lebensschrift«, das die unterschiedlichsten Blüten treibt. Vorzeitig materialisiert es sich in jenem Intervall, das sich zwischen Meyers geistigem Ableben, datiert durch seine Einlieferung in die Heil- und Pflegeanstalt Königsfelden am 7. Juli 1892, und seinem physischen Tod am 28. November 1898 erstreckt. Das in diesen Zeitraum fallende endgültige Zerwürfnis zwischen Meyers Gattin Louise Meyer-Ziegler auf der einen und seiner Schwester Betsy, dem Verleger Hermann Haessel und dem Germanisten Adolf Frey auf der anderen Seite entziffert sich letztlich als das Auseinandertreten zweier konkurrierender Entwürfe literarischer Einverleibung. Hier der Biograf, dem Meyer angeblich in gesunden Tagen schon seinen »Kadaver übergeben« habe, den dieser »untersuchen u. zerlegen« solle, womit Frey nach seinem ersten Besuch in Königsfelden beginnt;[18] dort eine Frau, die ihrem Gatten die Feder führt, vermutlich nicht nur in seinem Namen und mit seiner Hand korrespondiert, sondern auch dichtet. Man mag das eine für seriöser als das andere halten: Das Verlangen, sich schreibend mit einem lebenden Leichnam zu verbinden, wohnt beiden Unternehmungen inne. Und es setzt sich fort in den zahlreichen Nachrufen und biografischen Umtrieben, die schon bald – Frey[19] macht den Anfang – nach Meyers Tod einsetzen: in den 1903...

Erscheint lt. Verlag 6.8.2025
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Angst • Bruder • Dichter • Epoche • Irrenhaus • Konservatismus • Krankheit • Lebensgeschichte • Lyriker • Nationaldichter • Poet • Schriftsteller • Schweiz • Sehnsucht • Sohn • Widersprüche • Zürich
ISBN-10 3-8353-8841-X / 383538841X
ISBN-13 978-3-8353-8841-3 / 9783835388413
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