E-Book 271-280 (eBook)
640 Seiten
Blattwerk Handel GmbH (Verlag)
978-3-7409-9461-7 (ISBN)
Der Mond hatte sich hinter den Wolken verkrochen. Nur der Schein der Straßenlaterne warf einen Lichtstreifen auf die Eingangstür des Mietshauses und auf die Namensschilder neben den Klingelknöpfen. Das Schild mit der Aufschrift Mathilde Berger hätte Mona allerdings auch im Dunkeln gefunden. Immerhin hatte sie lange bei ihrer Tante gewohnt. Von ihrem sechsten Lebensjahr an bis zum Beginn ihres Studiums.
Mona drückte auf die Klingel. Eine ganze Weile tat sich nichts, bis ein Rollladen hochgezogen wurde und ein Fenster aufging.
Mona trat einen Schritt zurück und sah ihre Tante, wie sie sich im dritten Stock aus ihrem Wohnzimmerfenster beugte.
»Hallo, Tante Mathilde! Ich bin’s, Mona«, rief sie hinauf.
Tante Mathilde stutzte.
»Mona, du? Das …, das ist vielleicht eine schöne Überraschung. Wo kommst du denn her? Und warum hast du net vorher angerufen?«
Noch ehe Mona hätte antworten können, wurde das Fenster wieder geschlossen, und im Treppenhaus ging das Licht an. Eilige Schritte trippelten näher.
»Ich hab extra herunterkommen müssen. Der elektrische Türöffner ist kaputt«, hörte Mona Tante Mathildes Stimme von innen. Dann wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und umgedreht.
Kurze Zeit später lagen Mona und ihre Tante sich in den Armen.
»Mit dir hätt ich heut Abend am allerwenigsten gerechnet, Mona«, erklärte Tante Mathilde. »Umso mehr freut es mich, dass du wieder einmal bei mir auftauchst. Du fehlst mir. Auch wenn seit deinem Auszug schon fünf Jahre vergangen sind, hab ich mich noch net ans Alleinsein gewöhnt. Gibt’s einen besonderen Grund für deinen Besuch?«
Mathilde schob Mona ein Stück von sich und blickte ihr prüfend ins Gesicht. Sie runzelte die Stirn, als sie die Tränenspuren um Monas Augen sah.
»Mona, was ist denn los? Hast du geweint? Hast du Kummer?«, fragte sie.
Mona presste nur stumm die Lippen aufeinander und nickte.
Tante Mathilde legte fürsorglich ihren Arm um Monas Schultern.
»Das tut mir leid für dich. Hoffentlich ist nix gar zu Schlimmes passiert. Jedenfalls kommst du jetzt erst einmal mit herauf zu mir«, schlug sie vor. »Ich mach dir eine schöne Tasse Kakao. Mit viel Zucker, Zimt und Sahne. Und du erzählst mir, was dich bedrückt. Wie früher, als du noch mein kleines Madl warst.«
Mona lächelte dankbar und folgte Tante Mathilde in das gemütliche Wohnzimmer. Es war ihr immer noch so vertraut, als wäre sie erst vor wenigen Tagen ausgezogen. Trotz ihres Kummers durchströmte sie ein behagliches Gefühl, während sie sich auf dem Sofa niederließ.
Tante Mathilde war für Mona Ersatzmutter gewesen, seit sie denken konnte.
Nachdem Monas Mutter bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen war, hatte sie sich der kleinen Waisen angenommen. Sie hatte damit ihrer geliebten Schwester, mit der sie sich immer ausgezeichnet verstanden hatte, einen letzten Dienst erweisen wollen und hatte die kleine Mona auch schon bald in ihr Herz geschlossen. Wie eine Löwin kämpfte sie um die Erlaubnis des Jugendamts, Mona behalten zu dürfen, auch wenn die Behörden es ihr als alleinstehender Frau nicht eben leicht machten. Aber Mathilde setzte sich durch. Obwohl sie normalerweise eher schüchtern und zurückhaltend auftrat.
Mona war also das Waisenhaus erspart geblieben. Sie hatte in Mathildes kleiner Wohnung im Münchner Stadtteil Milbertshofen bleiben dürfen und hatte dort eine unbeschwerte Kindheit und Jugend verlebt.
Mit dem Beginn ihres Jurastudiums hatte Mona eine Studentenbude in München-Schwabing bezogen. Von da an waren ihre Besuche seltener geworden, aber vergessen hatte sie Tante Mathilde nie.
»Nun? Wo drückt der Schuh?«, fragte Tante Mathilde, als sie nach ein paar Minuten mit einem Tablett ins Zimmer kam, auf dem sich eine dampfende Tasse Kakao und eine Schale mit selbst gebackenen Keksen befanden.
Mona machte ein unglückliches Gesicht.
Sie griff nach der Kakaotasse und nippte daran.
»Es ist aus, Tante Mathilde. Alles ist aus«, sagte sie dann tonlos.
Tante Mathilde hielt Mona die Schale mit den Keksen hin.
»Aus?«, erkundigte sie sich verwirrt. »Ich versteh’ dich net, Mona. Was soll denn aus sein? Dein Leben fängt doch gerade erst richtig an. Du hast dein zweites Staatsexamen mit Bravour bestanden und bist mit einem attraktiven jungen Mann verlobt, den du über alles liebst und mit dem du privat und beruflich aufs Beste harmonierst. Und da redest du davon, dass alles aus sein soll. Also, ich weiß wirklich net, wieso ihr jungen Leute manchmal dazu neigt, die Welt schwärzer als schwarz …«
Tante Mathilde verstummte unter Monas verzweifeltem Blick.
»Ich bin nimmer verlobt«, stieß Mona schließlich hervor. »Und die Arbeit in der Kanzlei von Stefans Vater soll der Teufel holen. Nie und nimmer trete ich in die Kanzlei Gropius & Sohn ein. Da hab ich lieber keinen einzigen Cent in der Tasche und behalt meinen Stolz.«
Tante Mathilde starrte ihre Nichte entgeistert an, dann schüttelte sie den Kopf und steckte sich einen Keks in den Mund. Und gleich darauf noch einen.
»Wieso nimmer verlobt?«, fragte sie schließlich mit vollem Mund nach.
»Weil ich Stefan den Laufpass gegeben hab!«, erwiderte Mona heftig. »Zwischen mir und Stefan ist es aus. Für immer. Er hat eine andere Frau geküsst. Vor meinen Augen. So tief lass ich mich von einem Mann net demütigen.«
Mathilde Berger knabberte nervös an einem weiteren Keks. Was Mona da von sich gab, wollte ihr nicht in den Kopf. »Und du bist dir wirklich sicher, dass du dich net getäuscht hast?«, mahnte sie zur Besonnenheit. »Es könnte doch sein, dass einfach nur ein dummes Missverständnis vorliegt.«
Monas Züge verfinsterten sich.
»Ich bin doch net blind«, gab sie ärgerlich zurück.
Mathilde setzte sich neben Mona auf die Couch.
»Dass du blind bist, hab ich auch net behauptet«, verteidigte sie sich. »Ich mein’ ja nur, dass die Dinge manchmal viel harmloser sind, als sie aussehen.«
»Pah, harmlos!«, widersprach Mona und warf entrüstet ihren Kopf zurück. »Wenn du einen Seitensprung harmlos nennst …«
Die Tante konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Du hast mir bis jetzt nur von einem Kuss berichtet«, wies sie ihre Nichte zurecht. »Und ein Kuss ist bekanntlich kein Seitensprung.«
»Kuss, Seitensprung. Im Grunde ist das alles nur Wortklauberei, weil sowieso beides aufs Gleiche hinausläuft. Nämlich darauf, dass Stefan net treu sein kann. Und ein Mann, der mich schon vor der Ehe betrügt, kann mir gestohlen bleiben.«
Tante Mathilde tastete nach ihrem Nackenknoten und steckte eine locker gewordene Haarnadel fest.
»Ich hab deinen Stefan noch net oft gesehen«, sagte sie. »Genau genommen nur zweimal. Das eine Mal hast du ihn hierhergebracht, um ihn mir vorzustellen. Das andere Mal war ich bei eurer Verlobungsfeier. Auf mich hat er einen guten Eindruck gemacht. Von Frauenheld und Schwerenöter keine Spur. Ganz im Gegenteil. Deshalb will es mir einfach net in den Kopf, dass er …« Mathilde unterbrach sich, beugte sich vor und legte ihre Hand auf den Arm ihrer Nichte. »Wie hat er dir sein Verhalten denn erklärt, als du ihn zur Rede gestellt hast?«
Mona schaute ihre Tante entgeistert an.
»Zur Rede gestellt?«, wiederholte sie. »Mir auch noch seine dreisten Ausreden anhören?«
Sie trank ihren Kakao leer und stellte die Tasse auf das Tablett.
»Aber jeder Mensch, egal was er verbrochen hat, hat doch das Recht, sich zu verteidigen«, wandte Mathilde ein. »Es ist einfach net richtig, über jemanden den Stab zu brechen, ohne ihm zumindest eine Gelegenheit zu geben …«
Mona verdrehte die Augen.
»Bitte sei mir net bös«, fiel sie ihrer Tante ins Wort. »Aber warum hältst du eigentlich mir, die ich vollkommen unschuldig bin, eine Moralpredigt? Und wieso nimmst du stattdessen denjenigen, der den Fehler begangen hat, in Schutz? Könnte es sein, dass du, was Stefan betrifft, ein bissel parteiisch bist?«
»Ich? Parteiisch? Nein, Madl!«, erklärte Mathilde Berger mit Bestimmtheit. »Ich versuche nur, dich davon abzuhalten, einen Fehler zu machen, den du später vielleicht einmal bitter bereust.«
Mona schwieg.
Eine Weile blieb es still im Raum, nur das Ticken der altmodischen Standuhr, die Tante Mathilde jeden Morgen gewissenhaft aufzog, war zu vernehmen.
Schließlich erhob Mathilde sich und trug das Tablett mit Kakaotasse und Plätzchenschale in die Küche, wobei sie sich ein letztes Mal an den Plätzchen bediente.
Mona blieb allein zurück.
Mit leeren Blicken starrte sie vor sich hin, während sie ihre Tante in der Küche hantieren hörte.
»Ich hab nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass du ein bissel Urlaub machen solltest, Mona«, sagte Tante Mathilde, als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Vor allem, um Abstand zu gewinnen. Ich hab ein paar Hundert Euro auf der hohen Kante. Die spendiere ich dir gerne. Am besten gehst du gleich morgen früh in ein Reisebüro und suchst dir ein schönes Ferienziel aus. Es muss ja net Amerika oder Australien sein. Bestimmt findest du etwas, das net ganz so weit weg ist und sich eher im passenden finanziellen Rahmen bewegt.«
Mona fiel aus allen Wolken.
»Aber …, aber das kann ich doch net annehmen, Tante Mathilde. Du kannst mir doch net einen Urlaubsaufenthalt schenken. Einfach so«, entfuhr es ihr.
Im Stillen leistete sie der Tante Abbitte.
Trotz ihrer Kritik war Tante Mathilde verständnisvoller, als sie geglaubt hatte.
Abstand war wirklich eine gute Idee. Fort aus München. Fort von allem, was sie an die Zeit mit Stefan erinnerte. Je länger Mona überlegte, desto mehr...
| Erscheint lt. Verlag | 2.5.2022 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Der Bergpfarrer | Der Bergpfarrer |
| Verlagsort | Hamburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Alpen • Bundle • Heimat • Hüttenwirt • Liebesgeschichte • Liebesroman • Martin Kelter Verlag • Pfarrer • Sebastian Reiter • Sonnenwinkel • Sophienlust • Toni |
| ISBN-10 | 3-7409-9461-4 / 3740994614 |
| ISBN-13 | 978-3-7409-9461-7 / 9783740994617 |
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