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Dort dort (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
Hanser Berlin (Verlag)
978-3-446-26546-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dort dort -  Tommy Orange
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Tommy Orange gibt mit seinem vielbesprochenen Bestseller 'Dort, Dort' Native Americans eine Stimme. 'Eine neue Art amerikanisches Epos.' (New York Times) Jacquie ist endlich nüchtern und will zu der Familie zurückkehren, die sie vor vielen Jahren verlassen hat. Dene sammelt mit einer alten Kamera Geschichten indianischen Lebens. Und Orvil will zum ersten Mal den Tanz der Vorfahren tanzen. Ihre Leben sind miteinander verwoben, und sie sind zum großen Powwow in Oakland gekommen, um ihre Traditionen zu feiern. Doch auch Tony ist dort, und Tony ist mit dunklen Absichten gekommen. 'Dort dort' ist ein bahnbrechender Roman, der die Geschichte der Native Americans neu erzählt und ein Netz aufwühlend realer Figuren aufspannt, die alle an einem schicksalhaften Tag aufeinandertreffen. Man liest ihn gebannt von seiner Wucht und seiner Schönheit, bis hin zum unerbittlichen Finale.

Tommy Orange, geboren 1982 in Oakland, ist Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes. Sein erstes Buch, Dort, dort, war für den Pulitzerpreis 2019 nominiert und erhielt den American Book Award 2019. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Angels Camp, Kalifornien.

Prolog


In den finsteren Zeiten

Wird da auch gesungen werden?

Da wird auch gesungen werden.

Von den finsteren Zeiten.

Bertolt Brecht

Indianerkopf


Bis Ende der siebziger Jahre wurde ein Indianerkopf, der Kopf eines Indianers, die 1939 von einem unbekannten Künstler angefertigte Zeichnung des Kopfes eines langhaarigen Indianers mit Federhaube, an alle amerikanischen Fernseher gesendet, wenn das Programm zu Ende war. Das Indian-Head-Testbild. Wenn man den Fernseher laufen ließ, hörte man einen 440-Hertz-Ton — mit dem man auch Instrumente stimmt — und sah den Indianer, umgeben von Kreisen, die an Fadenkreuze in Zielfernrohren erinnerten. Auf der Mitte des Bildschirms war eine Art Bull’s Eye mit Zahlen wie Koordinaten zu sehen. Der Kopf des Indianers befand sich direkt über dem Bull’s Eye, als müsste man nur eben zum Einverständnis hochnicken, um das Fadenkreuz auf das Ziel zu legen. Es war nur ein Test.

1621 luden Kolonisten Massasoit, den Häuptling der Wampanoag, nach dem Abschluss eines Geschäfts über ein Stück Land zu einem Festmahl ein. Massasoit kam mit neunzig Mann. Wegen dieses Mahls versammeln wir uns immer noch jeden November zu einem Festessen. Wir feiern es als Nation. Aber damals war es kein Thanksgiving-Essen. Es war ein Landgeschäftsessen. Zwei Jahre später fand ein anderes, ähnliches Festmahl statt, das ewige Freundschaft symbolisieren sollte. An jenem Abend starben zweihundert Indianer an einem unbekannten Gift.

Als Massasoits Sohn Metacomet Häuptling wurde, fanden keine gemeinsamen Essen von Indianern und Pilgervätern mehr statt. Metacomet, auch bekannt als King Philip, wurde zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags gezwungen, laut dem die Indianer alle Waffen abgeben mussten. Drei seiner Männer wurden gehängt. Sein Bruder Wamsutta wurde, sagen wir mal, höchstwahrscheinlich vergiftet, nachdem er zum Plymouth Court beordert und festgenommen worden war. Was alles zum ersten offiziellen Indianerkrieg führte. Dem ersten Krieg gegen die Indianer. King Philip’s War. Drei Jahre später war der Krieg vorbei und Metacomet auf der Flucht. Gefasst wurde er von Benjamin Church, dem Hauptmann der ersten American Rangers, und einem Indianer namens John Alderman. Metacomet wurde enthauptet und zerstückelt. Gevierteilt. Die vier Teile wurden an Bäume gebunden, wo die Vögel sie zerrupfen konnten. Alderman bekam Metacomets Hand, die er in einem Rumkrug aufbewahrte und jahrelang überallhin mitnahm — sie den Leuten gegen Geld zeigte. Metacomets Kopf wurde der Plymouth Colony für dreißig Shilling verkauft, der damaligen Standardsumme für einen Indianerkopf. Der Kopf wurde auf eine Lanze gesteckt, durch die Straßen von Plymouth getragen und die nächsten fünfundzwanzig Jahre im Plymouth Fort ausgestellt.

1637 versammelten sich zwischen vierhundert und siebenhundert Pequot zum jährlichen Green Corn Dance. Die Kolonisten umstellten ihr Dorf, zündeten es an und erschossen jeden Pequot, der fliehen wollte. Das feierte die Massachusetts Bay Colony mit einem Festmahl am nächsten Tag, den der Gouverneur zu einem Tag der Danksagung erklärte. Thanksgiving-Feste wie dieses gab es überall nach »erfolgreichen Massakern«, wie wir sie wohl nennen müssen. Bei einer dieser Feiern in Manhattan sollen die Leute Köpfe der Pequot wie Fußbälle durch die Straßen geschossen haben.

Der erste Roman eines Native American, zugleich der erste Roman aus Kalifornien, wurde 1854 von einem Cherokee namens John Rollin Ridge geschrieben. The Life and Adventures of Joaquín Murieta handelt von einem angeblich echten mexikanischen Banditen dieses Namens aus Kalifornien, der 1853 von einer Gruppe Texas Rangers getötet wurde. Sie mussten beweisen können, dass sie Murieta getötet hatten, um an die 5000 Dollar zu kommen, die auf seinen Kopf ausgeschrieben waren, also schnitten sie ihn ab. Bewahrten ihn in einem Whiskeykrug auf. Auch die Hand seines Gefährten Three-Fingered Jack nahmen sie mit. Die Rangers gingen mit Murietas Kopf und Jacks Hand auf Tournee durch Kalifornien und nahmen einen Dollar Eintritt.

Der Indianerkopf im Krug, der Indianerkopf auf der Lanze waren wie Flaggen, die weithin zu sehen sein sollten. Genau wie das Indian Head Test Pattern an schlafende Amerikaner gesendet wurde, wenn wir in unseren Wohnzimmern die Segel setzten zur Fahrt über die ozeanblaugrünen Funkwellen hin zu den Ufern, den Bildschirmen der neuen Welt.

Der rollende Kopf


Eine alte Geschichte der Cheyenne handelt von einem rollenden Kopf. Eine Familie war von ihrem Lager weg an einen See gezogen — Mann, Frau, Tochter, Sohn. Am Morgen, wenn der Mann mit dem Tanzen fertig war, bürstete er seiner Frau das Haar und bemalte ihr das Gesicht rot, dann ging er auf die Jagd. Und als er wiederkam, war ihr Gesicht sauber. Nachdem das ein paarmal geschehen war, beschloss er, ihr zu folgen und zu beobachten, was sie tat, während er fort war. Er fand sie im See mit einem Wassermonster, einer Art Schlangenwesen, eng umschlungen. Der Mann zerstückelte das Monster und tötete seine Frau. Das Fleisch brachte er seinem Sohn und seiner Tochter nach Hause. Sie merkten, dass es anders schmeckte. Der Sohn, der noch gestillt wurde, sagte: Das schmeckt genau wie meine Mutter. Seine große Schwester belehrte ihn, es sei bloß Rehfleisch. Während sie aßen, rollte ein Kopf herein. Sie rannten davon, aber der Kopf folgte ihnen. Der Schwester fiel ein, wie dicht die Dornen dort waren, wo sie gespielt hatten, und mit ihren Worten erweckte sie die Dornen hinter sich zum Leben. Aber der Kopf drang hindurch und kam immer näher. Dann fiel ihr ein, wo Steine auf komplizierte Weise aufgehäuft worden waren. Die Steine erschienen, als sie von ihnen sprach, aber sie hielten den Kopf nicht auf, also zog die Schwester einen Strich über den Boden, eine Schlucht tat sich auf, und der Kopf konnte sie nicht überwinden. Doch nach langem Regen füllte die Schlucht sich mit Wasser. Der Kopf schwamm hinüber, und als er auf der anderen Seite war, wandte er sich um und trank das ganze Wasser aus. Der rollende Kopf wurde verwirrt und betrunken. Er wollte mehr. Mehr von irgendetwas. Mehr von allem. Und er rollte immer weiter.

Für die Zukunft sollten wir uns aber unter anderem eins merken: Niemand hat jemals Köpfe Tempeltreppen runtergerollt. Das hat Mel Gibson sich ausgedacht. Das haben wir aber vor Augen, wenn wir den Film gesehen haben: Köpfe, die Tempeltreppen runterrollen, in einer Welt, die die wahre Welt der Indianer im Mexiko des 16. Jahrhunderts darstellen soll. Mexikaner, bevor sie Mexikaner wurden. Bevor Spanien kam.

Wir wurden von allen anderen definiert und werden hinsichtlich unserer Geschichte und unseres aktuellen Zustands als Volk nach wie vor verleumdet, so leicht die Fakten auch im Internet nachzulesen sind. Wir haben die traurige, bezwungene Indianersilhouette vor Augen, die Köpfe, die Tempeltreppen hinunterrollen, Kevin Costner, der uns rettet, John Waynes Revolver, der uns niederstreckt, einen Italiener namens Iron Eyes Cody, der uns in Filmen spielt. Da ist der müllbetrauernde, weinende Indianer in dem Werbespot (auch Iron Eyes Cody) und der verrückte, waschbeckenwerfende Indianer, der der Erzähler des Romans war, die Stimme von Einer flog übers Kuckucksnest. Da sind die Logos und die Maskottchen. Der Abklatsch eines Abklatsches eines Bildes eines Indianers in einem Schulbuch. Von den obersten Spitzen Kanadas und Alaskas bis hinab zum äußersten Ende Südamerikas wurden Indianer entfernt und auf ein gefiedertes Bild reduziert. Unsere Köpfe prangen auf Flaggen, Trikots und Münzen. Unsere Köpfe waren, natürlich bevor wir als Volk auch nur wählen konnten, erst auf dem Penny — dem Indian Cent — und dann auf dem Buffalo Nickel — Münzen, die wie die Wahrheit über historische Ereignisse auf der ganzen Welt und wie das Blut all der Gemetzel heute nicht mehr im Umlauf sind.

Massaker als Prolog


Manche von uns wuchsen mit Geschichten über Massaker auf. Geschichten darüber, was mit unserem Volk vor nicht allzu langer Zeit passiert war. Was das für uns bedeutete. In Sand Creek, so hörten wir, jagten sie uns mit Haubitzen in die Luft. Freiwilligenmilizen unter Führung von Colonel John Chivington kamen, um uns zu töten — wir waren hauptsächlich Frauen, Kinder und Alte. Die Männer waren auf der Jagd. Sie ließen uns die Amerikaflagge hissen. Wir hissten sie und dazu noch eine weiße. Die weiße Fahne flatterte zur Kapitulation. Wir standen unter beiden, als sie kamen. Sie töteten uns nicht bloß. Sie zerrissen uns. Verstümmelten uns....

Erscheint lt. Verlag 19.8.2019
Übersetzer Hannes Meyer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel There there
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abgrund • Absturz • Alcatraz • Alkohol • Arapaho • Cheyenne • Fetales Alkoholsyndrom • Gewalt • Indianer • Indian Head • indianische Bevölkerung • Indigene Bevölkerung • Kalifornien • Lakota • Louise Erdrich • Native Americans • Oakland • powwow • Reservat • Ritual • Schicksal • Spiritualität • Stadtleben • Stämme • thanksgiving • Tradition • Ureinwohner • Wounded Knee
ISBN-10 3-446-26546-5 / 3446265465
ISBN-13 978-3-446-26546-2 / 9783446265462
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