Nächsten Sommer & Wenn nicht, dann jetzt (eBook)
491 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1557-4 (ISBN)
Zwei Romane von Bestsellerautor Edgar Rai in einem E-Book.
Nächsten Sommer.
Eigentlich wollten Felix, Marc und Bernhard nur zusammen fernsehen, doch am nächsten Morgen sitzen sie in Marcs orangefarbenem VW-Bus. Vor ihnen liegt die Reise ihres Lebens. In Südfrankreich wartet ein Haus auf sie, ein Haus am Meer. Sie lassen die Haare im Fahrtwind wehen, ertrinken beinahe in einem See, werden von der Polizei gejagt und von den Vögeln begleitet. Sie lesen Lilith auf, Typ Scarlett Johansson. Dann stößt Zoe dazu, mit gebrochenem Herzen, und zuletzt Jeanne, die traurige Französin. Je näher sie dem Ziel ihrer Fahrt kommen, desto brennender wird die eine große Frage: Was ist das Leben? Und am Ende der Straße steht ein Haus am Meer ...
Wenn nicht, dann jetzt.
Das ist kein normaler Urlaub. Das ist eine letzte Chance! Jan Bechstein ist in der Midlife-Crisis. Als Vater einer sechzehnjährigen Tochter ist er ein Versager und als Ehemann eine Vollniete. Das liegt weder an seiner Intelligenz noch an seinem Charme, das liegt einzig und allein daran, dass er die Frau, die er bis heute liebt, vor fünfzehn Jahren hat sitzen lassen: Sergeja. Musikerin (zweites Waldhorn) und Mutter der gemeinsamen Tochter Mia. So richtig hat Jan nie begriffen, was ihn damals geritten hat, und jetzt will Sergeja wieder heiraten. Einen anderen. Und zwar in dem kleinen slowenischen Dorf, in dem damals auch sie sich das Jawort gegeben haben. Ist es zu spät? Auf nach Süden! Dorthin, wo alles begann ...
Edgar Rai, geboren 1967, wurde mehrerer Schulen verwiesen, ging ein Jahr nach Amerika und studierte Musikwissenschaften und Anglistik in Marburg und Berlin. Er arbeitete unter anderem als Drehbuchautor, Basketballtrainer, Chorleiter, Handwerker und Onlineredakteur. Seit 2001 ist er freier Schriftsteller. Zahlreiche Romane, Filmbücher und Übersetzungen.
Alle lieferbaren Titel des Autors finden Sie unter aufbau-verlage.de, mehr zum Autor unter edgarrai.de.
1
»Wieso kommst du denn erst jetzt?« Bernhard sieht mich an, als sei ich ihm eine Erklärung schuldig. »Erste Halbzeit ist schon vorbei.«
In ihm schwelt es. Wie immer, wenn er bei seiner Mutter war. Ich könnte ihm sagen, dass er meine Verspätung nicht persönlich nehmen soll, aber Bernhard nimmt selbst schlechtes Wetter persönlich. Ich könnte ihm auch sagen, dass mich Fußball nicht interessiert, nie interessiert hat und nie interessieren wird und ich nicht einmal weiß, wer gegen wen spielt – und nur gekommen bin, weil Marc meinte, ich solle mich nicht immer in meiner Tonne verkriechen. Und weil ich ihm etwas zu erzählen habe.
»Tut mir leid«, antworte ich.
Das war offenbar, was er hören wollte, jedenfalls gibt Bernhard die Tür frei. »Macht ja nichts. Steht sowieso noch null zu null.«
In Bernhards Wohnung riecht es immer ein bisschen wie im Krankenhaus. Ein Geruch, der sich den Anschein des natürlichen geben will und doch aseptisch bleibt. Seine Diele ist ein Leichenschauhaus für Schuhe, in Edelstahl, klar lackiert. Sechzehn aufklappbare Fächer, hinter denen sich jeweils ein Schuhpaar verbirgt, auf der Stirnseite und auf der Seite gegenüber. Wenn man den Raum halbieren würde, könnte man die Seiten passgenau aufeinanderlegen.
Ich habe lange gebraucht, bevor mir klargeworden ist, dass ihn das aufrecht hält: Der Glaube an Symmetrie und Perfektion, daran, dass alles funktioniert und einen Sinn ergibt, solange es einer geometrischen Ordnung folgt. Marc meint, Ordnung sei Bernhards Religion – und dass er bestimmt früher seine Scheiße nicht angucken durfte.
Mir sind die ungeraden Zahlen lieber. Primzahlen zum Beispiel. Die sind ziemlich cool. Widersetzen sich jeder Formel. Man kann ihr Auftreten nicht berechnen. Das ist wie ein kosmisches Augenzwinkern. Letztlich gibt es für alles eine Erklärung – was nicht heißt, dass wir sie je finden.
Zoe sitzt auf dem Sofa und sieht sensationell gelangweilt aus. »Hi, Felix«, sagt sie, als ich hereinkomme. Kurz zuckt ein Lächeln auf.
Sie wäre gerne woanders. Bei Ludger vermutlich, oder wenigstens an einem Ort, wo wichtige Menschen verkehren, solche, die man kennt, aus dem Fernsehen oder der Gala. Ludger, um das kurz zu klären, ist das »Voß« der Kanzlei »Voß & Weber«, einer der besten Adressen für Menschen, die im siebenstelligen Bereich Steuern hinterzogen haben und bevorzugt straffrei und ohne Aufsehen davonkommen möchten. Und er ist Zoes Chef. Voß ist der Boss. Aber Ludger und seine Frau sind heute bei Freunden in Schlachtensee eingeladen, und Bernhard hat so lange wegen des Fußballspiels nachgehakt, bis Zoe schließlich zugesagt hat und ihm sogar dankbar war.
Ich frage mich, ob es uns noch lange geben wird, so, zu viert. Ohne den unermüdlichen Bernhard, der an uns festhält wie an einer Sehnsucht, ohne die er verkümmern müsste, wären wir bestimmt längst unwiederbringlich in unterschiedliche Richtungen gedriftet. Marc hat bereits begonnen, mit seiner Gitarre die Welt zu erobern, Bernhard versucht so angestrengt, jemand anderer zu sein, dass er selbst bald ganz dahinter verschwinden wird, und Zoe zieht es in höhere Gefilde.
Marc sitzt auf dem Balkon und raucht seinen Guten-Abend-Joint.
»Diogenes!«, begrüßt er mich. Seit ich in dem Bauwagen wohne, nennt er mich gerne Diogenes, wenn er einen geraucht hat. »Wie ist es mit deinem Vater gelaufen?«
Ich setze mich neben ihn auf die Bank und lege wie er meine Füße auf die Brüstung. »Mit dem lief es wie immer.«
Marc hält mir seinen Joint hin: »Mal ziehen?«
Ist ein Running-Gag zwischen uns. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich nehme kein komisches Zeug.
»Später vielleicht«, antworte ich, »hab gerade erst ’ne Line gezogen.«
So sitzen wir, und Marc schmunzelt die gegenüberliegende Hauswand an, als Bernhard ruft, dass es weitergeht. Er hat die Abendsonne im Gesicht, volle Breitseite. Ist der erste richtig warme Tag dieses Jahr. Gestern war noch Winter, eine Ahnung von Frühling im Gepäck. Heute ist alles anders. Die ganze Nacht durch im T-Shirt auf dem Fahrrad und trotzdem nicht frieren. Als würde man über LOS gehen und noch einmal von vorne anfangen.
Marc blinzelt trotz Sonnenbrille. Im Hof, in nagelneuem Grün, bäumt sich eine Kastanie auf.
»Irgendwann solltest du mal ziehen«, sagt er. »Leuchtet alles noch mal ganz anders.«
»Leuchtet mir genug, so wie es ist«, antworte ich.
Marc überlegt. »Leuchtet mir ein«, sagt er schließlich.
Als wir reingehen, sagt er: »Nachher fahren wir noch in die Strandbar – ein bisschen mit den Füßen im Sand scharren.«
»Okay«, antworte ich. »Muss dir sowieso was erzählen.«
Es dauert eine halbe Stunde, bevor mein letzter Satz zu Marc durchdringt. Die 85. Spielminute läuft. Zoe sitzt im Sessel, Bernhard, Marc und ich sitzen auf dem Sofa. Auf dem Rasen passiert noch weniger als in Bernhards Wohnzimmer. Bernhard rutscht unruhig hin und her. Er hätte uns gerne ein spannendes Spiel geboten, und jetzt fühlt er sich irgendwie schuldig, weil es so langweilig ist. Es gibt Beck’s Level 7 mit Korkuntersetzern – eine Art Doping-Bier für Leute, die durchs Trinken ihre Muskeln aufbauen wollen. Will ich nicht. Aber ich trinke ja auch nicht. Außerdem fettreduzierte Paprikachips und gestiftelte Möhren, Gurken und Zucchini, die sich im Kreis um eine Schale mit Kräuterdip versammelt haben. Bernhard ist die perfekte Mutti. Nicht, dass Marc oder ich eine bräuchten, aber Muttis sind nun einmal Muttis. Ob du sie brauchst oder nicht, interessiert sie nicht wirklich.
»Du musst mir was erzählen?«, fragt Marc.
Ein Spieler ist ausgerutscht und bekommt einen Freistoß. Plötzlich herrscht mehr Hektik auf dem Spielfeld als die gesamten Minuten davor.
»Gefährliche Entfernung«, ruft Bernhard.
»Kann ich dir auch nachher sagen«, antworte ich.
Während der Schiedsrichter eine Linie andeutet, entlang der sich die Mauer aufstellen soll, überlegt Marc, was er von meiner Antwort zu halten hat.
»Vergiss es«, sagt er. Inzwischen sieht auch Zoe mich an. »Wir kennen uns seit fünfzehn Jahren, und noch nie musstest du mir was erzählen. Also: Spuck’s aus.«
Jetzt blickt auch Bernhard zu mir. Der Spieler hat sich den Ball zurechtgelegt. Ich bin der Einzige, der sieht, wie er Anlauf nimmt. Zoe beugt sich vor: »Mach’s nicht so spannend.«
»Mein Onkel hat mir sein Haus in Südfrankreich vererbt«, sage ich.
In dem Moment fällt das Tor. 88. Minute. Neun Spieler in roten Trikots begraben einen zehnten unter sich.
»Ach, Scheiße!«, ruft Bernhard.
»Hab dich nicht so.« Marc stellt sein Bier absichtlich neben dem Korkuntersetzer ab. »Den Freistoß zeigen sie sowieso gleich noch hundertmal.«
»Ja, aber ich war nicht dabei.«
»Dabei warst du sowieso nicht.«
»Dein Onkel hat dir ein Haus in Südfrankreich vererbt?« Zoe klingt ein bisschen, als hätte sie es erben sollen.
»Streng genommen habe ich es gar nicht geerbt«, antworte ich. »Es gehört mir offenbar schon seit zwanzig Jahren. Ich wusste bloß nichts davon.«
Bernhards Brauen kräuseln sich: »Wie soll denn das gehen?« Ich erkläre ihnen, dass das Haus nie auf den Namen meines Onkels eingetragen war, sondern dass von Beginn an ich als Besitzer im Grundbuch stand. Den Rest seines Vermögens hat Onkel Hugo einem Waisenhaus in Marseille vermacht. Mein Vater ging leer aus.
»Und wieso?«, fragt Zoe. »Ich meine, wie kommt dein Onkel dazu, dir sein Haus zu überschreiben?«
Im Fernsehen zeigen sie aus sechs verschiedenen Blickwinkeln, wie sich der Ball ins linke obere Eck dreht. Dabei beschreibt er eine Flugbahn, die mathematisch nicht zu erklären ist. Jedesmal sieht es anders aus, aber egal, wie es aussieht: Jedesmal steht es danach eins zu null.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich.
Es dauert einen Moment, dann ruft Zoe: »Wow! Du bist Hausbesitzer!«
»Ist nichts Besonderes, glaube ich, das Haus.«
»Warst du nie da?«, will Bernhard wissen.
Ich schüttle den Kopf. »Meine Mutter wollte da mal Urlaub mit uns machen, aber mein Vater hat gesagt, dass ihn keine zehn Pferde dahin brächten.«
»Muss der gekotzt haben!«, ruft Marc. »Der ist doch garantiert total abgegangen – Mann, Bernhard, jetzt mach doch mal die Glotze aus.«
Das Spiel ist vorbei, inzwischen läuft Werbung.
Bernhard greift sich die Fernbedienung, dreht aber nur die Lautstärke runter. »Die bringen gleich die Analyse«, erklärt er. Marc schnaubt: »Analyse kannst du haben: neunzig Minuten getrabte Langeweile, unterbrochen durch ein Freistoßtor von Ribery in der achtundachtzigsten. Bayern ist weiter. Und jetzt mach aus.« Er wendet sich an mich: »Ist dein Alter nicht an die Decke gegangen?«
Ich ziehe den Schlüsselbund aus der Hosentasche, den ich seit heute Nachmittag mit mir herumtrage. »Als der Notar mir den über den Tisch geschoben hat, wäre er mir, glaube ich, gerne an den Hals gesprungen.«
Zoe weiß nicht viel über meinen Vater. »Und was hat er gesagt?«, fragt sie.
»Der Notar?«
»Dein Vater natürlich.«
»Dass ich das mein Leben lang bereuen werde.«
»Nicht im Ernst!«
Statt zu antworten, zucke ich mit den Schultern.
Zoe sinkt in den Sessel zurück: »Wie kann der so was sagen?«, denkt sie laut, und weil es nicht wirklich als Frage gemeint ist, antwortet auch niemand darauf.
Endlich schaltet Bernhard den Fernseher aus: »Verstehe ich nicht – dein Vater hat doch sowieso schon alles.«
Die Antwort kommt von...
| Erscheint lt. Verlag | 7.5.2018 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Bully • Bundle • Edgar Rai • Fehlentscheidung • Freiheit • Hochzeit • Liebe • Midlife-Crisis • Nächsten Sommer • Reise • Roadnovel • Roadtrip • Slowenien • Sommer • Surfen • Vater • Versager • VW • VW Bully • VW Bus • Wenn nicht, dann jetzt |
| ISBN-10 | 3-8412-1557-2 / 3841215572 |
| ISBN-13 | 978-3-8412-1557-4 / 9783841215574 |
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