Perry Rhodan Neo 134: Das Cortico-Syndrom (eBook)
160 Seiten
PERRY RHODAN digital (Verlag)
978-3-8453-4834-6 (ISBN)
1.
Peking, 7. Juni 2051
Wie kann ein Mensch nur so kalt sein? Julian Tifflor hatte den Unbekannten nur einen kurzen Augenblick lang berührt, doch es hatte sich angefühlt, als hätte er einen Eisblock angefasst. War dieser Tai Ho Shan denn tatsächlich ein Mensch? Oder war er etwas anderes – etwas, was die Sitarakh auf die Erde gebracht hatten?
Ein dumpfes Dröhnen ertönte in Julians Rücken. Er fuhr herum. Das Geräusch schwoll rasch zu einem anhaltenden Heulen an, es drang von verschiedenen Stellen des grauen Gebäudekomplexes herüber. Bei den Angehörigen, die sich zu Tausenden vor der Absperrung zur Baustelle versammelt hatten, kam Unruhe auf, überall erklangen verstörte Rufe. Die Schreie wurden lauter, als die oktaederförmigen Roboter der Invasoren ihre Wachposten aufgaben und drohend auf die Menschenmenge zuschwebten. Die Plasmatentakel am oberen Pyramidensegment der Maschinen peitschten hin und her. Immer weiter drängten sie die protestierende Menge damit zurück.
Julian brauchte keine Mutantengabe, um zu erkennen, dass die Situation auf einen handfesten Konflikt zusteuerte.
Das Gellen der Alarmsirenen nahm kein Ende. Weitere Roboter strömten aus der Anlage der Sitarakh. Aus den Energieringen unterhalb ihrer Pyramidenspitzen drangen rote Lichtstrahlen, die über die Gesichter der Anwesenden tasteten.
Die Roboter scannten die Umgebung.
Julian Tifflor ahnte, was oder wen sie suchten: den jungen Chinesen, der auf bisher unbekannte Weise direkt hinter Julians Einsatztrupp materialisiert war. Der behauptete, aus der Sitarakh-Einrichtung entkommen zu sein. Wenn er die Wahrheit sagte, besaß er Informationen, die von unschätzbarem Wert sein mochten. Wenn er dagegen von den Sitarakh geschickt worden war ...
Julian blieb keine Zeit für großartige Überlegungen. Er packte Tai Ho Shan am Arm. »Sehen wir zu, dass wir von hier verschwinden!«, forderte Julian. Sofort spürte er erneut die physische Kälte, die der Fremde ausstrahlte.
Der junge Chinese machte Anstalten, sich loszureißen. »Warten Sie. Wohin ...«
»Weg von hier«, antwortete Sue Mirafiore und griff nach dem anderen Arm des Manns. »Reicht das fürs Erste?«
Tai Ho Shan reagierte verwirrt. Er sah erst sie, dann ihre Hand auf seinem Arm an. So wie Julian Sue kannte, stabilisierte sie gerade den Gesundheitszustand des Chinesen, damit der Kerl nicht umkippte.
Die Roboter rückten näher. Julian wurde es zu brenzlig. »Los jetzt!«, drängte er.
Gemeinsam traten sie den Rückzug an. Unterstützt von Betty Toufrys Tarnfähigkeit, mischten sie sich unter die Menge, zwängten sich zwischen all den Menschen hindurch, die versuchten, vor den Sitarakhrobotern zurückzuweichen.
Eines der Beiboote der Besatzer flog über sie hinweg. Unter anderen Umständen hätten diese blumentopfförmigen Sitarakhfahrzeuge plump, beinahe lächerlich gewirkt. Allerdings nicht, wenn sie kaum zwanzig Meter über den Köpfen vorbeischossen. Die Menge brüllte auf, manche warfen sich zu Boden.
Andere hatten genug.
Julian verstand den Schrei nicht, der irgendwo links von ihm ertönte, doch was danach kam, erforderte keine Chinesischkenntnisse. Ein Stein flog durch die Luft und knallte gegen die Panzerung eines Roboters. Der zweite Energiering, der zwischen den beiden Pyramidensegmenten lag, leuchtete auf. Aber da hatten sich bereits weitere Menschen dem Ruf angeschlossen. Sie bückten sich ebenfalls nach Schutt und Steinen, davon gab es am Rand der Baustelle schließlich genug.
Wenn Julian eins von der Vergeltungsaktion in Sankt Petersburg gelernt hatte, dann das: Die Sitarakh begnügten sich nicht mit Warnungen. Nicht wenn sie angegriffen wurden. Russland hatte ein Raumschiff der Besatzer mit atomaren Sprengwaffen attackiert. Das Ergebnis war eine verwüstete Millionenstadt. Das Schlachtschiff der Sitarakh hingegen hatte keinen Kratzer davongetragen.
»Lauft!«, rief Julian. Zu seinen Leuten, aber auch an die Menge rundum gerichtet.
Zu spät. Aus dem Augenwinkel sah Julian gleißend rotes Licht. Er fuhr herum. Eine ganze Gruppe zu seiner Linken zerfiel zu glühendem Staub. Schlagartig eskalierte die Situation. Die Menschen schoben, stießen, drängten. Alles, nur um wegzukommen von den tödlichen Gegnern.
»Julian!« Das war Rabeya Khatun.
Sie war hinter ihm, streckte ihm den Arm entgegen. Doch sie und Betty wurden im Getümmel immer weiter abgedrängt. Anne Sloane und Cheng Chen Lu waren völlig aus seinem Blickfeld verschwunden. Er verlor seine Gruppe.
»Wo sind die anderen?«, rief er Rabeya zu.
Die junge Bangladescherin deutete nach rechts. Julian konnte nichts erkennen. Zu viele Menschen, zu viel Panik.
»Die U-Bahn!«, fiel ihm ein. Sie waren zwar mit einem Taxi zur Baustelle der Sitarakh-Anlage gekommen, aber unterwegs hatte er das blaue Signalschild der Pekinger Untergrundbahn gesehen, nicht weit von hier. »Wir treffen uns dort!«
»Was?«, schrie Rabeya zurück.
»U-Bahn!«, brüllte er aus Leibeskräften.
Rabeya stolperte zur Seite. Betty riss sie gerade noch rechtzeitig hoch, ehe die Sensointerpretin niedergetrampelt werden konnte. Julian mochte sich gar nicht ausmalen, was Rabeya in dieser brodelnden Menschenmenge erleiden musste. Wenn Rabeya Khatun persönliche Gegenstände berührte, durchlebte sie die emotionalen Höhe- und Tiefpunkte der Besitzer, als wären es ihre eigenen. Nun wurde sie hin- und hergestoßen, kam in Kontakt mit Dutzenden, sogar Hunderten Menschen. Und bei der akuten Panik rundum übertrug jeder davon vielleicht seine bittersten Erinnerungen in Rabeyas Verstand.
Julian konnte ihr im Moment nicht helfen. Er hoffte, dass die beiden ihn gehört hatten, sonst würde es schwierig, sie wiederzufinden. Wenigstens das war beim Rest ihres Teams unproblematisch: Lu trug ein anonymisiertes Smartarmband, ebenso wie er. Im Notfall würde er sie und Anne hierüber erreichen können – sofern es den beiden gelang, zusammenzubleiben.
Das Gedränge wurde zusehends schlimmer. Julian kämpfte sich voran, wurde unentwegt angerempelt und gestoßen. Er hatte kaum Platz genug, um Atem zu schöpfen, geschweige denn, um sich zügig vorwärtzubewegen. Aber trotzdem ging es irgendwie weiter. Es musste.
Schreie hinter ihm. Erneut rotes Licht und Hitze. Julian sah sich um, doch er konnte nicht ausmachen, wo der Treffer erfolgt war. Die Roboter waren überall. Immer noch scannten sie erfolglos die Menge. Er hatte keine Ahnung, ob sie Menschen voneinander unterscheiden konnten oder nach welchen Kriterien sie das taten. Er wusste nur, dass er nicht in ihre Fänge geraten wollte.
Unerbittlich drängte sich Julian durch das Getümmel. Weiter. Vorwärts. Er zog Tai Ho Shan mit sich, an dessen anderen Arm sich Sue klammerte. Nicht umdrehen, nicht stehen bleiben. Nicht loslassen. Nur weiter.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie den Wall erklommen, der zur Straße führte. Hier oben zerstreute sich die Menge allmählich, sie konnten wieder freier atmen. Julian sah sich um.
Die Roboter waren hinter ihnen zurückgeblieben. Sie hatten mehrere Menschen aus dem Gewimmel gefischt. Mit ihren gelb leuchtenden Tentakeln hielten sie die Gefangenen in Schach, trieben sie zusammen. Wer nicht spurte, erhielt einen Hieb und fiel unter Zuckungen zu Boden, woraufhin die Roboter kehrtmachten und erneut den Flüchtenden folgten. Sie suchten immer noch.
Julians Verdacht, dass Tai Ho Shan das eigentliche Ziel der Sitarakh war, erhärtete sich. Zeit, ihre neue Bekanntschaft in die Mangel zu nehmen.
»So, mein Freund. Noch mal von vorn: Warum suchen die nach dir? Wer bist du? Und damit meine ich nicht deinen Namen.«
»Kann dir doch egal sein«, murrte der Chinese. »Hör zu, ich bin euch ja dankbar, dass ihr mir rausgeholfen habt. Aber ab jetzt komme ich allein klar. Also lasst mich in Ruhe.« Er riss sich los.
Sue seufzte hörbar auf. Offenbar hatte sie während der gesamten Zeit den Kreislauf des Fremden unterstützt. Nun, da der Körperkontakt unterbrochen war, würde der Effekt ihrer Heilfähigkeit rapide nachlassen. »Ich glaube nicht, dass er in der Verfassung für ein Verhör ist, Tiff«, meinte sie. Sie rieb sich müde die Stirn.
»Ach was, mir geht's gut«, widersprach Shan. Seine Zähne fingen an zu klappern und widerlegten sein lässiges Gehabe. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und stampfte mit den Füßen auf. »Ein paar Minuten, dann bin ich wieder in Ordnung.«
Daran zweifelte Julian. Sue hatte recht. Auch wenn der Raureif in dem stachelig gegelten Haar des Fremden inzwischen geschmolzen war, war er noch immer deutlich unterkühlt. Und dies war nicht der geeignete Ort, um seine Befragung fortzusetzen. Bald würden die Roboter ihren Suchradius ausdehnen. Falls Shan tatsächlich aus der Einrichtung der Sitarakh entkommen und er derjenige war, nach dem die Roboter suchten, sollten sie so schnell wie möglich aus der Gegend verschwinden.
Julian aktivierte sein Armband. Die holografische Bedienoberfläche leuchtete auf.
Bei dem Anblick wich Shan erschrocken zurück. Er rempelte unwillentlich einen Flüchtenden an, der ihn unsanft zurück in Sues Richtung stieß. »Hey, was hast du vor?«, wollte Shan erfahren.
»Ich besorge uns einen Unterschlupf. Oder möchtest du lieber in ein Krankenhaus?«
»Nein, bloß nicht!«
Hätte mich auch gewundert, dachte Julian.
Shan zögerte, schien hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Julians Team loszuwerden, und dem Bedürfnis nach Erholung, das er in seinem Zustand zweifellos verspüren musste. Schließlich nickte er. »Unterschlupf klingt okay.«
Etwas stimmte mit diesem Kerl nicht. Was Shan...
| Erscheint lt. Verlag | 3.11.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Perry Rhodan Neo |
| Verlagsort | Rastatt |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | Neo • Perry Rhodan • Perryversum • Science Fiction |
| ISBN-10 | 3-8453-4834-8 / 3845348348 |
| ISBN-13 | 978-3-8453-4834-6 / 9783845348346 |
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