Da Vincis Fälle: Fünf Abenteuer (eBook)
700 Seiten
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-0052-1 (ISBN)
1.Kapitel
Der geheimnisvolle Fremde
Blitze zuckten aus den grauen Wolken. Es regnete in Strömen und die ungepflasterte Straße, an dem der kleine Ort Vinci lag, verwandelte sich innerhalb kurzer Zeit in einen Sumpf. Wind kam auf und schüttelte Sträucher und Bäume.
„Warum machst nicht die Fensterläden zu, Leonardo?“
„Weil ich zuschauen will.“
„Aber es regnet gleich herein, wenn es schlimmer wird!“
„Komm doch auch ans Fenster, Carlo.“
„Ich weiß nicht...“
„Wenn wir Glück haben, sehen wir, wie ein Baum gespalten wird. So wie letzten Sommer, weißt du noch?“
Der zehnjährige Carlo erinnerte sich gut.
Sein gleichaltriger Freund Leonardo saß am offenen Fenster und blickte fasziniert ins Freie.
Eigentlich war er damit beschäftigt gewesen, einen toten Vogel zu zerlegen, den er gestern im Wald gefunden hat. Aber das Gewitter war interessanter als die Frage, wie ein Vogel von innen aussah. Von dem Zimmer aus, das Leonardo im Haus seines Großvaters bewohnte, hatte man eine gute Aussicht auf die Umgebung. Es lag im Obergeschoss und wenn man am Fenster saß, konnte man das Dorf bis zu den nahen Anhöhen überblicken. Im letzten Jahr hatte es ein noch sehr viel schlimmeres Gewitter gegeben. Auch damals war Carlo zu Besuch gewesen, als es plötzlich heftig zu regnen und zu stürmen anfing. Sie hatten am Fenster gesessen und mit angesehen, wie der Blitz in einen uralten Baum auf einer der Anhöhen vor dem Dorf gefahren war. Seitdem war der Baum gespalten und Leonardo war von einer Faszination für Blitze und Gewitter erfasst worden, die ihn jedes Mal aufs Neue packte, wenn es am Himmel zu grummeln begann.
Carlo erinnerte sich noch gut daran, wie Leonardo am Tag nach dem Gewitter unbedingt den Baum hatte untersuchen wollen. Sie hatten Brandspuren entdeckt, aber das war auch schon alles, was sie herausgefunden hatten.
Carlo hatte Leonardos Worte von damals noch im Ohr. „Der Blitz muss eine viel größere Kraft als ein Mann mit einer Axt haben, denn was glaubst du wohl, wie lange ein Mann mit einer Axt brauchen würde, um einen Baum zu spalten! Das müsste ein Riese sein, denn sonst könnte er den Baum niemals so spalten: von oben nach unten! Und deshalb denke ich, dass im Blitz die Kraft eines Riesen steckt!“
Carlo seufzte und kam zu Leonardo ans Fenster. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass sein Freund voll von verrückten Ideen war und immer alles ganz genau wissen wollte. Auch Dinge, von denen Carlo dachte, dass man sie nicht unbedingt wissen musste. Wozu war es zum Beispiel gut, darüber Bescheid zu wissen, wie es im Inneren eines toten Vogels aussah?
Die frische Luft, die jetzt hereinwehte, ließ Carlo leichter atmen. In Leonardos Zimmer roch es nämlich immer ziemlich streng, da er gerne tote Tiere zerlegte, um zu sehen, wie sie von innen aufgebaut waren.
Meisten vergaß er dabei allerdings, die Reste zu beseitigen, sodass immer ein gewisser fauliger Verwesungsgeruch in der Luft hing.
„Was könnte man alles erreichen, wenn man die Kraft eines Blitzes zur Verfügung hätte“, sagte Leonardo. „Stell dir vor, man könnte diese Kraft irgendwie einfangen oder eine Maschine erfinden, die selbst Blitze hervorbringt! Wozu eine Kolonne von Holzfällern einen ganzen Monat braucht, das könnte man damit an einem Tag erledigen! Und im Krieg bräuchte man befestigte Städte nicht mehr monatelang belagern, sondern könnte mit dieser Kraft die Festungsanlagen zerschlagen!“
Immer wieder dachte Leonardo sich die seltsamsten Erfindungen aus und erzählte mit einer so großen Anschaulichkeit von irgendwelchen fantastischen Maschinen, dass man tatsächlich glauben konnte, es wäre möglich, so etwas herzustellen.
„Aber wie sollte man einen Blitz einfangen?“, fragte Carlo, der sich immer wieder fragte, woher Leonardo nur all diese Ideen hatte.
„Genau das ist das Problem! Wenn mir da eine Methode eingefallen wäre, hätte ich schon längst mal versucht, so etwas zu bauen.“
„Leonardo! Du kannst Blitze nicht einfangen. Wie soll das gehen? Du könntest genauso gut das Sonnenlicht einzufangen versuchen!“
„Das Sonnenlicht kann man einfangen“, sagte Leonardo.
„So, wie denn?“
„Mit Spiegeln. Du kannst es selbst von einem Spiegel zum anderen weiterleiten.“
„Aber Sonnenlicht hat auch den Vorteil, dass es dich nicht erschlagen kann!“, wandte Carlo ein. Vor drei Jahren war im Nachbarort ein Bauer vom Blitz getroffen worden, der bei Gewitter zu lange auf seinem Feld geblieben war. Er war sofort tot gewesen. Leonardo antwortete nicht.
Dann weiß er auf meine Argumente also ausnahmsweise mal keine Antwort mehr!, dachte Carlo, aber er war sich nicht ganz sicher, ob sein Freund vielleicht auch nur gerade sehr intensiv an etwas anderes dachte. Das kam nämlich auch häufiger mal vor. Er saß dann einfach da und wirkte ganz abwesend, weil er über irgendetwas nachdachte oder gerade einen seiner seltsamen Einfälle hatte. Dann bekam er nicht einmal mit, wenn man ihn ansprach. Auf jeden Fall war es mit Leonardo nie langweilig und deswegen verbrachte Carlo gerne seine Zeit mit ihm – auch wenn sein Freund der mit Abstand merkwürdigste Junge war, den es in Vinci gab. In das Tosen des Unwetters, die immer dichter aufeinander folgenden Donnerschläge und das Prasseln des Regens mischte sich jetzt ein anderes Geräusch, das Carlo aufhorchen ließ. Hufschlag!
Wenig später tauchte ein Reiter auf, der die morastig gewordene Straße zwischen Pisa und Florenz entlang preschte, an der das Dorf Vinci lag. Der Reiter trug einen Umhang, der ihn einigermaßen vor dem Regen schützte. Der Kopf wurde von einer tellerförmigen Lederkappe bedeckt, an der das Wasser nur so heruntertropfte. Vom Gesicht des Mannes konnte man nur die Augen sehen, denn er hatte seinen Kragen hochgestellt.
„Wer ist das denn da vorne?“, fragte Carlo. Er stieß Leonardo an. „Der Kerl dort! Ich habe den noch nie her gesehen!“
Der Reiter zügelte sein Pferd und hielt an. Er ließ den Blick über die Häuser von Vinci schweifen.
„Er war schon mal hier“, sagte Leonardo. „Das ist etwa vier Wochen her. Aber da war es Nacht. Vollmond, daran erinnere ich mich genau, den ich habe versucht, die dunklen Flecken, die man auf dem Mond sieht, nachzuzeichnen. Ist leider nicht so besonders gut geworden...“
„Ein seltsamer Mann...“
„Jedenfalls ist er bewaffnet. Unter seinem Umhang schaut eine Schwertspitze hervor!“
Leonardo zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ein Söldner, der sich in Florenz bei der Stadtwache anwerben lassen will!“
„Dann wäre er jetzt nicht hier!“, meinte Carlo.
„Er könnte abgewiesen worden sein, weil keine Stelle frei war“, gab Leonardo zu bedenken. „Und jetzt will er es noch mal versuchen. Aber vielleicht ist er auch der Gesandte eines fernen Hofes, der eine wichtige Botschaft nach Florenz zu bringen hat! Aber, dass er ein hoher Herr sein muss sieht man doch gleich an seiner Kleidung, seiner Ausrüstung, dem Sattelzeug...“ Leonardo sprach nicht weiter. Irgendein Gedanke schien ihn plötzlich abzulenken.
„Hast du gesehen, wo er in jener Nacht hin geritten ist, als du ihn beobachtet hast?“, fragte Carlo.
„Nein. Ich hörte, wie Großvater die Treppe heraufkam und bin schnell ins Bett gegangen. Ich sollte nämlich eigentlich schlafen. Offenbar hatte ich zu viel Krach gemacht, sodass er mich hören konnte.“
Der Reiter lenkte nun sein Pferd zur Seite und verschwand dann hinter der Kirche.
„Ich wette, er ist jetzt zu unserem einzigen Gasthof geritten und will dort übernachten“, vermutete Leonardo. „Wenn er heute noch nach Florenz will, würde er dort erst ankommen, wenn die Stadttore schon geschlossen sind.“
Leonardo blickte zu Himmel. Die Blitze wurden seltener. Der Donner war nur noch ein fernes Grummeln. Nur der Regen wurde noch heftiger.
„Schade“, sagte Leonardo. „Das Gewitter zieht ab. Ich glaube nicht, dass heute noch ein Baum gespalten wird.“ Er wandte sich vom Fenster ab. „Hilfst du mir, den toten Vogel auseinander zu schneiden?“
„Das ist doch ekelhaft!“, stieß Carlo angewidert hervor.
„Ich habe auch noch eine Eidechse. Wenn du willst, können wir auch mit der anfangen.“
„Ich muss gleich brechen“, sagte Carlo. „Allein, wenn ich schon daran denke... Stell dir mal vor, du würdest aufgeschnitten, wenn du tot bist!“
„Wenn ich tot wäre, spüre ich das ja nicht mehr“, erwiderte Leonardo. „Also würde es mir auch nichts ausmachen. Im Gegenteil! Wenn es ein richtiger Arzt macht, erkennt der vielleicht besser wie der Körper funktioniert, sodass man wirksame Heilmethoden entwickeln könnte! Dann würde ich sogar nach meinen Tod noch etwas Sinnvolles bewirken!“
Carlo runzelte die Stirn. „Vielleicht hat mein Vater doch recht“, meinte er.
„Womit?“
„Damit, dass bei dir im Kopf irgendetwas nicht ganz richtig ist.“
„Carlo, das sind tote Tiere – sonst nichts! Habt ihr...
| Erscheint lt. Verlag | 8.9.2019 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
| Kinder- / Jugendbuch | |
| ISBN-10 | 3-7389-0052-7 / 3738900527 |
| ISBN-13 | 978-3-7389-0052-1 / 9783738900521 |
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