Die Freiheit des Verstehens (eBook)
306 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77722-0 (ISBN)
Theorien des Verstehens und kritische Theorien werden häufig als Gegenpositionen begriffen. Georg Bertram zeigt in seinem neuen Buch, dass dies nicht so sein muss. Verstehen ist seinem Entwurf zufolge konstitutiv mit Prozessen der Kritik und Selbstkritik verbunden - mit Prozessen, die ihrerseits in Konflikten wurzeln. Aus diesem Grund ist Verstehen, wo es sich einstellt, nicht selbstverständlich, sondern Teil einer in umfassender Weise improvisatorischen Praxis. Von dieser hermeneutischen Praxis der Freiheit aus lässt sich erkennen, was Subjekte ausmacht.
Georg W. Bertram ist Professor für theoretische Philosophie (mit Schwerpunkten in Ästhetik und Sprachphilosophie) an der Freien Universität Berlin. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: <em>Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik</em> (stw 2086) und <em>Die Kunst und die Künste. Ein Kompendium zur Kunsttheorie der Gegenwart</em> (hg. zus. mit Stefan Deines und Daniel Martin Feige, stw 2346).
11Einleitung
Um Fragen des Verstehens ist es philosophisch still geworden. Während die analytische Philosophie vielerorts die philosophische Szenerie bestimmt und die Erben des strukturalistisch-phänomenologischen Denkens hauptsächlich in den Kulturwissenschaften auf breite Resonanz stoßen, entsteht der Eindruck, das ehedem in der Hermeneutik angesiedelte Nachdenken über menschliches Verstehen sei von der Bildfläche mehr oder weniger verschwunden. So sieht es zumindest aus, wenn man sein Augenmerk darauf richtet, dass die großen hermeneutischen Traditionslinien, die die Philosophie in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts mitgeprägt haben, heute keine ernsthafte Fortsetzung finden. Bei aller Wertschätzung, die ihre Philosophien bis heute zumindest zum Teil erfahren, wird doch an das Denken Hans-Georg Gadamers und Gianni Vattimos im Moment systematisch nicht weiter angeknüpft. Der so genannte Neue Realismus kann zwar als philosophische Strömung verstanden werden, die unter anderem aus hermeneutischen Schulen hervorgegangen ist. Er versteht aber sein Denken eher nicht als hermeneutisch und verfolgt unter anderem die Strategie, aus dem Denken der Neuzeit insgesamt auszubrechen.[1] Die Frage nach den Grundlagen menschlichen Verstehens setzt jedoch am Subjekt-Objekt-Verhältnis an, ist also ein Kind der Neuzeit und von daher für einen Ausbruch aus derselben denkbar schlecht geeignet. Insofern wird man den Neuen Realismus kaum als eine Reaktualisierung einer Reflexion menschlichen Verstehens begreifen können.
Man mag die philosophische Stille in Bezug auf menschliches Verstehen für angemessen halten. Liegt nicht in der Art und Weise, wie Fragen des Verstehens in der Vergangenheit verfolgt wurden, ein problematischer traditionalistischer Duktus? Und haben nicht prominente Vertreter hermeneutischen Denkens (etwa der Schule Joachim Ritters) in der deutschen Nachkriegsphilosophie diesen 12traditionalistischen Duktus gepflegt und sich gegen philosophische Weiterentwicklungen gesträubt? Sicher haben sich viele Philosoph:innen der hermeneutischen Tradition nicht unbedingt um eine Modernisierung des philosophischen und gesellschaftlichen Denkens sowie um seine Öffnung anderen Traditionen und kulturellen Räumen gegenüber bemüht. Dennoch wäre es vorschnell, von daher ein Urteil über ein philosophisches Nachdenken bezüglich der Grundlagen des Verstehens abzuleiten. Und es wäre auch nicht angemessen, aus der aktuellen Stille auf eine Erschöpfung der philosophischen Leistungsfähigkeit dieses Nachdenkens zu schließen. Zu sehr sind auch philosophische Traditionen Konjunkturen und Machtpolitiken unterworfen. So kann es wichtig sein, danach zu fragen, welche Impulse erstens für eine Weiterentwicklung des hermeneutischen Denkens produktiv sein könnten und inwiefern zweitens eine solche Weiterentwicklung in Bezug auf drängende philosophische Fragen relevant ist.
In diesem Buch will ich den Vorschlag machen, dass eine immanente Kritik der hermeneutischen Positionen, die bis in unsere Gegenwart hinein vorherrschen, dies leisten kann. Mit meinem Vorschlag ist eine Diagnose verbunden, die von der bislang vertretenen Einschätzung abweicht. Demnach ist das hermeneutische Denken mitnichten von der philosophischen Bildfläche verschwunden. Es hat nur sein Erscheinungsbild in entscheidender Weise verändert. Wichtige hermeneutische Positionen finden sich in den letzten Jahrzehnten unter anderem im Rahmen der analytischen Tradition. John McDowells Rekurs auf die Philosophie Gadamers kann als paradigmatischer Ausdruck dafür begriffen werden.[2] Auch die Bewegung, die man als analytischen Neohegelianismus bezeichnen kann, ist ein Zeichen der neuen hermeneutischen Ausrichtung analytischer Philosophien.[3] Die vielen Debatten, die aktuell über Kant und Hegel geführt werden, finden großteils auf einem im weitesten Sinne hermeneutischen Boden statt. Nicht zuletzt aktualisiert auch der so genannte Neoaristotelismus – wie er sich über McDowell hinaus unter anderem bei Matthew Boyle[4] und in 13anderer Weise bei Sebastian Rödl[5] zeigt – hermeneutische Grundgedanken.
Statt das philosophische Nachdenken über Grundfragen des Verstehens für erledigt zu halten, gilt es also zu konstatieren, dass es sich zumindest teilweise einer ganz neuen Bedeutung erfreut, die damit verbunden ist, dass es nicht mehr als solches zutage tritt. Das aber führt dazu, dass problematische Momente hermeneutischen Denkens implizit bleiben und so unkritisch wiederholt werden. Dies zu ändern, halte ich für wichtig. Grundlegende Elemente der Theorie des Verstehens müssen explizit gemacht und kritisch befragt werden. Gerade das jüngste Wiederaufleben hermeneutischer Grundmotive ist mit Aspekten verbunden, die es als solche zu reflektieren gilt.
Im Zentrum dessen, was an neueren hermeneutischen Positionen problematisch ist, steht aus meiner Sicht der Gedanke, den ich als Unfreiheit des Verstehens bezeichnen will. Verstehen wird immer wieder als in dem Sinne unfrei begriffen, dass es als eine unhintergehbare Selbstverständlichkeit gilt. Demnach versteht man einfach, wie man versteht. Oder mehr im Sinne der Unfreiheit artikuliert: Man kann nicht anders, als so zu verstehen, wie man versteht. Der Gedanke von der Unfreiheit des Verstehens aber ist falsch. Man kann immer anders verstehen. Es gilt zu begreifen, dass Verstehen von Grund auf mit einem Potential der Freiheit verbunden ist.
Die im Folgenden präsentierten Überlegungen zielen darauf ab, die grundlegende Verknüpfung zwischen Verstehen und Freiheit auszubuchstabieren. Diese Verknüpfung darf aber nicht kurzschlüssig gedeutet werden. Verstehen garantiert nicht einfach per se Freiheit. Wenn man es im Sinne einer solchen Garantie begreift, dann dreht man den Gedanken der Selbstverständlichkeit nur um. Es ist abstrakt betrachtet dasselbe, die Unfreiheit oder die Freiheit als Selbstverständlichkeit des Verstehens zu deuten, also zu sagen, es sei selbstverständlich, so zu verstehen, wie man versteht, oder zu sagen, es sei selbstverständlich, dass man immer anders versteht, als man zuvor verstanden hat. Die These von der Selbstverständlich14keit des Verstehens lässt sich nur dadurch durchbrechen, dass man die Verknüpfung von Verstehen und Freiheit als prekär begreift und in dieser Weise Verstehen als ein nicht selbstverständliches Geschehen begreiflich macht. Aus diesem Grund spreche ich von einem Potential der Freiheit, das in allem Verstehen angelegt ist: In allem Verstehen kann in einem gewissen Maße ein Moment von Freiheit wirklich werden. Ob es zu einer Verwirklichung kommt, liegt – wie ich in diesem Buch rekonstruieren will – in der konkreten Ausgestaltung von Praktiken des Verstehens begründet.
Will man das in Frage stehende Verhältnis von Verstehen und Freiheit als offen und prekär fassen, hilft der Rekurs auf Improvisationen. Improvisationen sind Praktiken, in denen Freiheit immer eine Aufgabe darstellt. Wer improvisiert, läuft stets Gefahr, den Besonderheiten einer Situation oder seiner Gegenüber nicht gerecht zu werden, und dies aus dem Grund, weil er in Stereotypen und mechanisierten Abläufen verhaftet bleibt. So besteht die Kunst der Improvisation darin, sich aus festgefahrenen Strukturen zu lösen und dadurch Freiheit zu gewinnen. Es gilt, die Grundsituation des Verstehens von dieser Eigenart von Improvisation her zu begreifen. In allem Verstehen geht es darum, sich immer wieder Spielräume, anders zu verstehen, zu erarbeiten. Noch weniger als in der Improvisation ist es dabei so, dass das immer wieder Andere und Neue sowie die ständige Veränderung ein Selbstzweck wären. Im Verstehen geht es darum, dem, was es zu verstehen gilt, gerecht zu werden, ob das nun Veränderung erfordert oder nicht. Insofern liegt die improvisatorische Kunst des Verstehens darin, auf eine je angemessene Weise auf das zu reagieren, womit man konfrontiert ist. Das schließt das Beibehalten von Verständnissen genauso ein wie das Ausbilden neuer Impulse für das Verstehen.
Ein verbreitetes Missverständnis besteht darin, Improvisation als ein Geschehen aufzufassen, das von einer grundlegenden Freiheit ausgeht. Man muss demnach dann improvisieren, wenn man mit einer Situation konfrontiert wird oder sich vorsätzlich in eine begibt, in der man nicht aufgrund von Routinen abgesichert zu handeln vermag. Dieser unhaltbaren Konzeption zufolge ist das...
| Erscheint lt. Verlag | 15.1.2024 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Hermeneutik • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Kritische Theorie • Neuererscheinung • neuer Krimi • Neuerscheinungen • neues Buch • Philosophie • STW 2431 • STW2431 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2431 • Verstehen |
| ISBN-10 | 3-518-77722-X / 351877722X |
| ISBN-13 | 978-3-518-77722-0 / 9783518777220 |
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