Martin Heideggers »Schwarze Hefte« (eBook)
445 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74454-3 (ISBN)
<p>Marion Heinz ist Professorin für Philosophie an der Universität Siegen.</p> <p>Sidonie Kellerer ist Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Siegen.</p>
43Rainer Marten
Martin Heidegger – Zur Einheit seines Denkens
97 Bände beredtes Schweigen, Reden über Schweigen inbegriffen[1] – ja, da hat einer das Reden nötig, der weiß, dass das, was er zu sagen hat, zu groß ist, als dass er es sagen könnte und dürfte.[2] Schuld daran ist das Sein selbst, später auch als das Sein selber angesprochen, womit es deutlicher das ist, was es schon immer sein sollte: ein agens.[3] In Sein und Zeit taucht es auf Seite 12 als dasjenige auf, worum es dem zum Seinswesen umgedachten Menschen, Dasein genannt, geht.
In der Vorbereitungszeit von Sein und Zeit ab 1921 hat Heidegger nicht Mein Kampf gelesen, das Buch war noch nicht erschienen, sehr wohl aber in deutscher Übersetzung, wie mich Reinhard May und sein Übersetzer, der Harvard-Professor Graham Parkes, überzeugen, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland von Zhuang Zi (3. Jahrhundert v. Chr.).[4] Auch der Wegbereiter des Daoismus hatte Schwierigkeiten mit dem Sein selbst. Er versuchte es mit Bildern, Heidegger mit sprachlichen Neuerungen. Zudem begabt er das Eine und Einzige,[5] das das Sein selbst ist, mit dem dramatischen Zug des Geschickhaften, von dem Zhuang Zi nichts wusste. Heideggers Sein selbst, erdacht als Gegenentwurf des Menschen, der wir sind, wird sich als Phantasmagorie erweisen.
44I.
Gegen das Denken zu denken[6] – das war seine Devise von Anfang bis zum Ende. Sie machte ihn immun gegen Kritik. Gilt es in jedem Falle gegenzudenken, dann ist das eigene Denken sich selbst das Maß. Knapp dreißig Jahre alt, am Beginn einer akademischen Karriere, erklärt Heidegger, dass es nicht um Erkennen und Wissen gehe, sondern um Staunen und Fragen.[7] Wunder gibt es viele. Der staunend Gegendenkende kennt ein einziges: das Wunder des Seins. Anders als für Platon, Aristoteles und noch Husserl ist für ihn Staunen keine Störung der Vernunft, die es zu beseitigen gilt. Staunend denkt er das Eine und Selbe, und genau dabei bleibt er. Seine einzige Frage, die Seinsfrage, will vom Sein nichts wissen, sondern auf es hören.
Der radikal Andersdenkende ist prädestiniert, ein Großer zu sein. Staunen und Hören schließen einen Rückfall in die Tradition methodisch aus. Ein Anknüpfen an sie freilich braucht er, entfiele doch sonst das Gegen. Die angezielte ursprünglichere und denkendere Wiederholung der Seinsfrage hat von vornherein das »Gespräch« des Großen mit den Großen der Tradition im Sinn – den Königsweg eigener Legitimierung.
II.
Der einzige Gedanke seines Denkweges,[8] der Gedanke von Sein und Zeit, führt Heidegger dazu, die auserwählte Tradition radikal neu zu deuten: durch Verwesentlichung. Ab sofort bestimmt staunend-hörendes Seinsdenken, was die erwählten Zeugen gedacht und gesagt haben. Das Ergebnis der Enthistorisierung könnte gelungener nicht sein: Anfängliches und wiederholendes Denken 45rücken geschickhaft zusammen. Die Denkgeschichte gerät zum Drama. Gegen das anfängliche Denken, das so anfänglich gar nicht war, da es den Zugang zu den »ursprünglichen ›Quellen‹« verlegte,[9] setzt Heidegger die ungleich denkendere These, dass das »›Wesen‹ des Daseins« in seiner Existenz liegt.[10] Das ist wahrhaftig ein Gegengedanke: Der Mensch sei, seinem Wesen nach, nicht Lebewesen, sondern Seinswesen, sei sein Daß, nicht aber das, was er ist. Er wäre umstürzend, gehörte er nicht zu dem, was sich nach Aristoteles zwar sagen, nicht aber klaren Geistes denken und akzeptieren lässt.[11] Kurz: Es ist ein unmöglicher Gedanke. Das möchte ich einsichtig machen.
Im Da des Daseins das Daß und kein Was zu sehen will nicht als Abstraktion verstanden sein. Ist Dasein geschlechtlich das große Neutrum, dann soll das für eine ungleich wesenhaftere Konkretion stehen.[12] Die Verwesentlichung des Menschen, die sich gegen seine Vermenschlichung richtet, entzieht ihm alles, was zu uns Menschen gehört. Ist Dasein seinem Wesen nach kein geschlechtlich bestimmtes Sein, dann auch kein vernünftiges, das sich mit anderen Selbsten darüber verständigte, was zuträglich und was abträglich, was Recht und was Unrecht ist. Mit der radikalen Entsachlichung hat eine absolute Entsozialisierung statt. Es ist ohne Andere, ist kein Ich gegenüber einem Du. Auch ist es nicht wahrnehmbar und erkennbar, da gänzlich entgegenständlicht. Das Dasein lebt nicht, es existiert. Das ist die Quintessenz seines Erdachtseins. Darum ist es auch ohne Alter, also entzeitlicht, hat nichts von einem Wirklichen, über das wahre und falsche Aussagen zu machen wären. Will man wissen, was dann überhaupt noch sein Sein ausmacht, muss man erkennen, dass dafür nichts als die Zeit bleibt. Das ist freilich nicht die zu durchlebende Zeit, nichts, was wir Zeit nennen. Die Geworfenheit des Daseins in sein Da ist es, die vorgibt, dass es auf sein Ende hin zu sein hat. So ist es, wörtlich, »Sein aus Zeit«.[13] Zeit ist jetzt die eigentliche Zukünftigkeit des Daseins. Und die wäre? Wir hörten es schon: das Nicht-mehr-Dasein! Ist Sein des 46Daseins seinem eigensten Wesen nach Möglichsein, dann kommt dafür allein sein Jederzeit-nicht-mehr-dasein-Können in Frage,[14] das ist seine eigenste eigentliche Möglichkeit. Alles, was das Leben unternimmt, gerät zur Nichtigkeit, zur Flucht vor der Eigentlichkeit. Der Tod eines Lebenden, der schmerzliche Abschied des Einen vom Anderen, gilt dem Seinsdenker nichts. Das Dasein ist ganz für das eigene Da- und Daß-Sein da, damit aber für das eine und selbe Daß des Seins selbst. So endet es vollendet solitär. Kein Freund trauert um es, kein Nachkomme, weil es dergleichen unmöglich hatte.
Das Dasein lässt das eigenste Selbst in sich und aus ihm selbst handeln,[15] aber es verdankt sich nicht sich selbst[16] und schon gar keinem Anderen. Nicht von ungefähr gesellt sich zum Neutrum Dasein das Neutrum Es. Bereits 1914 greift Heidegger es auf, um auf momentanes und plötzliches Geschehen zu verweisen. Bevorzugte Beispiele sind »Es kracht«, »Es blitzt«, mit denen er die Mystifikation des Es anbahnt, anstatt sie als unbestimmte Lokative zu erkennen.[17] Für die Geworfenheit des Daseins in sein Da als die Seins-, nicht Lebensmöglichkeit, sich auf sein Jederzeit-weg-sein-Können zu entwerfen, ist das große Es gebraucht: das Sein selber als das Werfende.[18] Das macht aus Dasein und Es keine zwei, sondern eins. Das Dasein »gehört« in das Ereignis des Seins selbst. Wie das Sein des Daseins ist das des Es ohne jede Sachhaltigkeit.[19] Auch das Es ist ein Sein-aus-Zeit, dies jetzt nicht als Sein des Jederzeit-mit-dem-Dasein-am-Ende-sein-Könnens, sondern als Sein zum geschickhaft Letzten des Seinswesens Mensch. Die bekannten 300 Jahre, heute wären es noch knapp 250, sind anvisiert, bis das große Es, Heidegger wörtlich, »so weit« ist.[20] »Es« ist das eschatologische Ereignis, ein echtes Singularetantum: das Letzte als das Erste der 47künftigen Welt. Das »werfend-zeitigende Wesen des Seins selber«,[21] bringt es Welt einst zum Welten, ist einmalig tätig.[22]
Mit dem Dasein, das in nichts der Welt und dem Leben verfallen ist, sondern nackt seine Endlichkeit austrägt, und mit dem Es, das mit dem gewaltigen Stoß des Daß das Geschick des Seins ereignishaft vollendet, ist Heidegger bei seinem Wunder: beim Daß von Sein. Da es sich allem Erkennen entzieht, bleibt es ein Wunder. Mag man sich noch so sehr auf das Ereignishafte und Ekstatische, Plötzliche und Jähe, Augenblickliche und Blitzartige fixieren, so führt doch nichts davon auf die Spur eines die Erde erzittern lassenden Seinsbebens,[23] das etwas anderes wäre als das Produkt einer hoch motivierten und stark verdichteten, auf ihr Handwerk stolzen Denkkunst. Dasselbe gilt vom Dasein, dem in vollendeter Eigentlichkeit jede Verbindung zum Leben abgeht. Ein Daß ist nun einmal nicht ohne Was zu haben, soll es erfahrbar sein. Das Operieren im Nichterkennbaren, Nichtwissbaren, Namenlosen, ja, wie es auch Zhuang Zis Maxime ist, im Vergessen von allem[24] hat seinen Preis.
Heidegger bezahlt seine »bald dreitausendjährige Seinsvergessenheit«[25] bewusst mit Lebens- und Weltvergessenheit. Sagt er: »[D]ie Wissenschaften denken nicht – zu ihrem Glück«,[26] dann hätte er auch sagen müssen: »[D]ie Menschen sind seinsvergessen – zu ihrem Glück«, gehört sie ja in der Tat zur Grundausstattung des sich auf das Leben entwerfenden Lebens. Was er als seine Grunderfahrung reklamiert, dass das Sein selber in Vergessenheit bleibt, 48obgleich es das in seiner Wahrheit eigentlich Zu-Denkende ist,[27] trägt alle Züge einer Grundentgleisung. Die Spur, die er aufnimmt, führt nicht auf Holzwege, nicht in die Irre, schon gar nicht in die für sich reklamierte der groß Denkenden, sondern in subtile Verstiegenheit. Kraft seines Sendungsbewusstseins führt sie ihn dazu, jede Gelegenheit wahrzunehmen, das Sein gegen das Leben auszuspielen, was immer dann menschenverachtende Züge annimmt, wenn er erdachte Seinsnot über härteste Lebensnot triumphieren lässt.
III.
Das Seinswesen Mensch ist von Anfang an geschickhaft gedacht. Ist seine Seinsart zeitlose Zeitlichkeit, so ist sie seins-, nicht lebensgeschichtlich bestimmt. Die Denkgeschichte des Seins, wie Heidegger sie gestaltet, ist konstitutiv für das Konzept des Daseins. Gilt es aber, das ist die erste Forderung in Sein und Zeit, diese Geschichte ursprünglicher zu wiederholen, dann ist der Begriff des Daseins als seinsgeschichtlicher auch schon ein...
| Erscheint lt. Verlag | 13.9.2016 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
| Schlagworte | Antisemitismus • Kontroverse • Nationalsozialismus • STW 2178 • STW2178 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2178 • Tagebuch |
| ISBN-10 | 3-518-74454-2 / 3518744542 |
| ISBN-13 | 978-3-518-74454-3 / 9783518744543 |
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