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Die Aktualität des Deutschen Idealismus (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
441 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74493-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Aktualität des Deutschen Idealismus -  Robert B. Pippin
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Die in diesem Band versammelten Aufsätze verbinden zwei Behauptungen. Die erste ist, dass die begrifflichen Neuerungen, die die großen Figuren der deutschen philosophischen Tradition, allen voran Kant und Hegel, entwickelt haben - Begriffe wie Selbstbewusstsein, Freiheit, Subjektivität, Logik, Geist und philosophische Methode -, nach wie vor von herausragendem philosophischem Interesse sind, also keineswegs als bloß historische Bestände betrachtet werden dürfen. Die zweite Behauptung lautet, dass eine Reihe klassischer Deutungen dieser Begriffe weder deren Radikalität noch deren philosophisches Potenzial in den Blick bekommen. Dieses Manko präzise zu benennen und zu beheben - und dabei die Aktualität des Deutschen Idealismus zu belegen - ist das Ziel dieses Bandes.

<p>Robert B. Pippin, geboren 1948, ist Professor für Philosophie an der Universität Chicago sowie Mitglied des dortigen Committee on Social Thought. Er lehrte u. a. in San Diego, Amsterdam und Berlin, wo er auch Fellow am Wissenschaftskolleg war. 2011 hatte er den Schiller-Lehrstuhl der Universität Jena inne.</p>

271.
Die Form der Vernunft


I.


Die Frage der Freiheit ist in der modernen deutschen Tradition nicht nur eine metaphysische Frage. Sie betrifft den Status eines freien Lebens als eines Wertes, in der Tat sogar des »absoluten« Wertes, wie man in dieser Tradition zu sagen pflegte. Ein freies Leben ist von unbedingtem, unvergleichlichem und unschätzbarem Wert, und es stellt die Grundlage eines einzigartigen und, wie gesagt, absolut unqualifizierbaren Respekts dar, den man jedem Menschen als solchem schuldet. So steht jeder, der diese Sicht verteidigt, unter erhöhtem Druck, uns zu erklären, worin ein freies Leben besteht. Kants berühmte Antwort lautet »Autonomie«, wobei dieser Ausdruck zunächst oder zumindest eine Freiheit von äußerer Beschränkung, Zwang und Einschüchterung (»für sich selbst denken«) meint. Noch wichtiger jedoch, meint er ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst. Man wird von mir erst dann behaupten können, ich sei wahrhaft »Herr meiner selbst«, wenn es sich bei den Überlegungen, die bestimmen, was ich tue, um Gründe handelt. Wenn jedoch die Ausübung meiner Vernunft letztlich lediglich darin besteht, rational auf Neigungen, Begierden und Abneigungen reagieren zu können, dann lasse ich es weiterhin zu, dass mein Leben von kontingenten Impulsen »beherrscht« wird – so ausgeklügelt und hierarchisch geordnet meine Pläne zur Bedürfnisbefriedigung auch immer sein mögen. Daher, so schließt Kant, bin ich nur dann wirklich autonom beziehungsweise selbstbestimmend, wenn eine für mein Handeln relevante (das heißt normativ maßgebliche) Überlegung die »Form der Vernunft« als solche ist, wie er so oft und doch rätselhafterweise betont. Die vertrautere Bezeichnung für diese notwendige Bedingung der Autonomie ist »kategorischer Imperativ«. Um deutlich zu machen, dass die Unterordnung unter die »Form« der Vernunft als Autonomie gilt, besteht Kant darauf, dass das Moralgesetz als »selbstgesetzt« verstanden wird, dass wir uns je als Urheber dieses Gesetzes betrachten müssen und dass wir an dieses Gesetz gebunden sind, weil wir uns selbst daran binden.

28Kants Autonomieverständnis ist jedoch in ein viel umfassenderes und ziemlich komplexes Bild des normativen Verhältnisses zwischen vernünftigen Subjekten und der Welt überhaupt eingebettet, und wir müssen dieses Bild zunächst verstehen – auch, wie der praktische Teil seiner Philosophie dort hineinpasst –, bevor wir zu der Frage zurückkehren können, wie genau Kant die Gleichung aus Freiheit, Autonomie und Selbstgesetzgebung verstanden wissen wollte.

Ein ziemlich typischer und kühner Hinweis auf das Herzstück dieses Bildes findet sich in der Kritik der reinen Vernunft, in einer Passage des Abschnitts »Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft«.[1] Hier beschreibt Kant den unablässigen Versuch der menschlichen Vernunft, Einheit hinter der Mannigfaltigkeit zu finden und die entsprechenden Erklärungsprinzipien auf ein Minimum zu beschränken. Dabei lehnt er die Vorstellung ab, dass wir dies nur aus pragmatischen Gründen tun, etwa um uns Schwierigkeiten zu ersparen oder um uns die Organisation der Ergebnisse empirischer Forschung zu erleichtern. Im Gegenteil, so betont er, gelte in diesem Fall wie auch überall sonst, dass die Vernunft »nicht bettle, sondern gebiete«.[2]

Die Rede vom Gebieten ist Bestandteil des wohlbekannten Gefüges einer an Recht und Politik orientierten metaphorischen Sprache, die Kant verwendet, um seine grundlegende Einstellung zu unserem kognitiven, praktischen und ästhetischen Verhältnis zur Welt auszudrücken. Bereits die kopernikanische Wende der Philosophie hatte nahegelegt, dass Gegenstände besser als »unserer Erkenntnis gemäß« verstanden werden sollten als umgekehrt,[3] und der Verstand selbst wurde als »das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses« bestimmt.[4] In der gesamten ersten Kritik scheint es zumindest so, als beruhe Kants Eintreten für die Möglichkeit apriorischen Wissens jederzeit auf der Idee eines tätigen Intellekts, der vorschreibt, das Gesetz gibt beziehungsweise befiehlt, dass die Erfahrung eine Einheit haben solle, ohne die repräsentationaler Gehalt unmöglich wäre.

29Wie bereits erwähnt, ist dieser Gedanke auch in Kants praktischer Philosophie von zentraler Bedeutung. An dieser Stelle genügt es, die wohl wichtigste (und doppeldeutige) Passage seiner Moralphilosophie zu zitieren:

Alle Maximen werden nach diesem Prinzip verworfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens nicht zusammen bestehen können. Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß.[5]

Und obgleich sich die dritte Kritik wohl am weitesten vom Bild eines gesetzgebenden und bestimmenden Subjekts entfernt, enthält die Argumentation auch hier eine seltsame, indirekte Berufung auf ein derartiges Bild: Die Lust am Schönen ist eine Lust, die von der Erfahrung einer formalen Einheit der Apprehension hervorgerufen wird, der Art von Einheit, die sich aus solch legislativen Forderungen ergeben würde, die aber tatsächlich unabhängig von jeder Anwendung solcher Forderungen erfahren wird. Dadurch können wir Lust an der »Zweckmäßigkeit« empfinden, gleichwohl »ohne Zweck«.

Offenbar also behält das gesetzgebende, befehlende Subjekt durch die gesamte kritische Philosophie hindurch Priorität. Das Bild enthält jedoch ein weiteres, entscheidendes Element, seinen wichtigsten und dichtesten Bestandteil. Diese Dimension wird im finalen Eintrag in die Liste der »Reflexionsbegriffe« auf den Punkt gebracht:

Materie und Form. Dieses sind zwei Begriffe, welche aller andern Reflexion zum Grunde gelegt werden, so sehr sind sie mit jedem Gebrauch des Verstandes unzertrennlich verbunden.[6]

Unser gesetzgebendes Subjekt bestimmt die Form der Erfahrung, die vernünftige Form des Handelns; und die formalen, subjektiven Bedingungen der Erfahrung überhaupt legen die Bedingungen fest, unter denen eine ästhetische Erfahrung lustvoll sein und dennoch von jedem Subjekt vernünftigerweise »verlangt« werden 30kann. Transzendentales Wissen betrifft die Weise der Erkenntnis, die Erkenntnisart* von Gegenständen beziehungsweise die Form solchen Wissens,[7] und ein reiner Begriff ist nur »die Form des Denkens eines Gegenstandes überhaupt«.[8]

In der Sphäre des Praktischen wird das Moralgesetz beziehungsweise der kategorische Imperativ oft als die »Form der reinen praktischen Vernunft« als solcher bezeichnet. Da nach Kant die menschliche Vernunft ohne Hilfe keine Einsicht in das Gesetz der Natur oder in objektive moralische Eigenschaften haben kann, kann nur Unterordnung unter die Form der reinen praktischen Vernunft eine rationale Ethik begründen. Dies scheint natürlich sehr weit von unserem gewöhnlichen Verständnis der Dringlichkeit moralischer Verpflichtung und der Natur der Behauptung, dass Forderungen dieser Art existieren, entfernt zu sein. (Warum sollte ich der »Unterordnung unter die Form der reinen praktischen Vernunft« so tief verpflichtet sein?) Sicherlich aber ist dies Kants Position. In der zweiten Kritik wird gesagt, der »formale oberste Grundsatz der reinen praktischen Vernunft«[9] konstituiere »die Autonomie des Willens«,[10] der »formale praktische Grundsatz der reinen Vernunft«[11] selbst sei im Rahmen einer solchen Autonomie der »Bestimmungsgrund des Willens«.[12]

Es ist ziemlich offensichtlich, was Kant mit diesen Bemerkungen ausdrücken will: Wenn wir gemäß solchen Grundsätzen handeln, die Kant ›material‹ nennt – wie etwa dann, wenn wir unsere Bedürfnisse befriedigen oder auch wenn wir erstreben, was wir für substanzielle Güter halten –, dann kann man von uns nicht behaupten, wir seien wahrhaft selbstbestimmend, und zwar schlichtweg deshalb, weil wir keine Kontrolle darüber haben, welche Nei31gungen, Impulse und Leidenschaften wir zufällig erleben, oder darüber, warum ein vermeintliches Gut überhaupt für gut gehalten werden sollte. Hingegen handeln wir auf vollkommen selbstbestimmende Weise, solange wir den rein formalen Charakter einer jeden Maxime als einer möglichen Bedingung meiner material motivierten Handlung oder der Setzung eines endlichen Ziels beachten und also fragen, ob die Form der Maxime dem formalen Wesen der Vernunft als solcher gerecht wird – dass sie von jedem geteilt werden kann und dass man für sich selbst keine »Ausnahme« geltend macht. So weit herrscht Klarheit hinsichtlich Kants Absichten. Die Frage allerdings, wie es um den Zusammenhang zwischen dieser Auffassung von Formalität und den gut oder schlecht machenden Merkmalen unserer Gründe bestellt ist, war stets eine tiefe Quelle großer Kontroversen. Und das ist sie noch heute.

II.


So viel zur gängigen Zusammenfassung der kantischen Position und dem vorherrschenden Bild. Man kann wohl sagen, dass wir es hier größtenteils mit einem Bild der »Auferlegung« zu tun haben, dem gemäß die spontane menschliche Vernunft widerspenstigen materialen Gehalten der Anschauung sowie ungezügelten egoistischen Leidenschaften, die unserer sinnlichen Natur entspringen, eine selbstgegebene Form auferlegt. Wir können weiterhin sagen, dass diese vernünftige Form den formalen Rahmen vorgibt, in...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Freiheit • Hegel • Kant • STW 2184 • STW2184 • Subjektivität • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2184
ISBN-10 3-518-74493-3 / 3518744933
ISBN-13 978-3-518-74493-2 / 9783518744932
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