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Spiel der Zeit (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
608 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-13658-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Spiel der Zeit -  Ulla Hahn
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Über Jahre der Sehnsucht und Leidenschaft
Wie geht man vor, um sich das Fremde zum Freund zu machen? Man macht sich auf den Weg. Schritt für Schritt wagt sich Hilla Palm, Arbeiterkind vom Dorf, in das Leben in Köln. In den turbulenten 68ern sucht sie dort heimisch zu werden, erkundet die Welt der Sprache, genießt die Freiheit des Denkens und muss doch erkennen: Ich bin meine Vergangenheit. Erst als sie ihrer Liebe begegnet, findet sie die Kraft für einen neuen Blick auf alte Verletzungen.

Das Schicksal einer jungen Frau vor dem imposanten Epochengemälde der 68er, einer der radikalsten Umbruchphasen in der Geschichte der Bundesrepublik.

Ulla Hahn, aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Germanistik-Promotion als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, anschließend als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Schon ihr erster Lyrikband, »Herz über Kopf« (1981), war ein großer Leser- und Kritikererfolg. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman »Das verborgene Wort« (2001) erhielt sie den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller »Aufbruch«, der zweite Teil des Epos, und auch Teil drei, »Spiel der Zeit« (2014), begeisterte Kritiker wie Leser. »Wir werden erwartet« (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus um das Arbeiterkind Hilla Palm. Zuletzt erschien 2021 ihr Gedichtband »stille trommeln« mit Gedichten aus 20 Jahren.

LOMMER JONN, hatte der Großvater gesagt, zum ersten, zum zweiten und zum dritten Mal: Ich kann sie doch nicht einfach sitzen lassen im hillije Kölle, meine Hilla, mit dieser Lichtung, dieser Nacht in ihrem jungen Leben, da muss einer her, der sie erlöst, muss Freude her, Party, Lebenslust. Heranspaziert, heißt es noch einmal für Vater Josef Palm und Mutter Maria Palm, für die Großmutter Anna Rüppli, den Bruder Bertram, Altstraße 2; für Tante Berta, Onkel Schäng und die Cousinen Maria und Hanni, Stammpersonal. Alle aus Dondorf, diesem gepflegten Ort am Rhein, wie es auf dem Poststempel heißt, wenn man eine Karte vom Schinderturm verschickt. So etwas gibt es nämlich dort jetzt auch. Hat sich mächtig was getan, seit Hildegard Palm mit dem Großvater und dem Bruder am Rheinufer Buchsteine aufspürte und aus ihren feinen Äderungen die verrücktesten Geschichten vorlas. Wutsteine auch, Steine, in die sie die fiesen Gesichter mieser Menschen hineinsah, und dann weg damit, in den Rhein, ins Wasser. Einen Supermarkt gibt es in Dondorf nun, und ein Hochhaus soll gebaut werden gegenüber Hilla Palms Elternhaus, wo man die schöne alte Gärtnerei dem Erdboden gleichgemacht hat.

Hilla Palm ist aus Dondorf weg, nach Köln, studiert dort Germanistik und Geschichte, wohnt in einem Haus für katholische Studentinnen, dem Hildegard-Kolleg. Und nur wegen ihr mache ich mich jetzt an den dritten Band, denn wie gesagt, ich kann sie doch nicht hängen lassen, verkommen lassen nach dieser Nacht auf der Lichtung im Krawatter Busch. Wo drei Kerle sie betrunken machten und über sie herfielen. Ihr das antaten, wofür sie bis heute das Wort nicht zu denken wagt. Das sie durch den Ort des Verbrechens ersetzt: Lichtung. Einer muss her, der sie befreit aus ihrer buchstäblichen Erstarrung, aus ihrer Verklammerung in die Buchstaben, die gelehrten Texte, die Angst vor dem Leben.

Hilla ist nicht mehr allein. Ich selbst schaue meiner jüngeren Schwester über die Schulter, wann immer mir danach ist, übernehme gewissermaßen das Kommando über meine Vergangenheit, die ja ihre, Hillas, Gegenwart ist. Übernehme zudem die Verantwortung für Hillas Erfahrungen, die ja auch die meinen sind, übernehme die Verantwortung für meine Erfindungen, die nicht meine, aber doch Hillas Erfahrungen sind. Dabei hoffe ich, man wird den Unterschied zwischen Erfindungen und Erfahrungen so wenig bemerken wie in den vorangegangenen Hilla-Palm-Büchern. Denn für mich, Hillas Alter Ego, war gerade das der Anreiz fürs Schreiben: Erfahrungen und Erfindungen so miteinander zu verschmelzen, dass jenseits von Erfahrung und Erfindung ein Drittes entsteht: die Erzählung, der Text. Ein Text allerdings, der so beschaffen sein sollte, dass jede Erfindung Erfahrung sein könnte, jeder Vorgang auf dem Papier Vorgang in der Erlebniswelt meiner Hilla. Doch genug des Theoretisierens.

Meine kleine Hilla, Schwester, die ich beschützen möchte – ach, dass wir nichts mehr beschützen können, was gestern noch heute war. Aus und vorbei und doch in uns so lebendig das Gestern, die kleine Hilla, Vater und Mutter und all die anderen Toten, erfunden oder erlebt, alles Gestern so lebendig, so Heute, so Jetzt, so außer mir und in mir: Ich bin mein Gestern, ich bin meine Vergangenheit, in jedem Augenblick nichts als Vergangenheit – und Hoffnung auf Zukunft.

Zukunft, die im Bewusstmachen der Hoffnung, im Aussprechen, Hinschreiben schon in der Gefahr der Vergangenheit schwebt. Kleine Hilla. Du sollst reden, wie du es gewohnt warst in den Büchern zuvor, auch die anderen, alle, die du gekannt hast, sollen reden, zu Wort kommen – welch eine schöne Metapher. Du sollst zu Wort kommen. Dich artikulieren, in Worte fassen, zum Ausdruck bringen, formulieren, deine Form finden. Du und all die anderen. Und ich, eure Erzeugerin und von euch gezeugt, werde euch ins Wort fallen, meine Meinung sagen, euch die Meinung sagen – Widerspruch willkommen. Dokumente und Zeugen werde ich beibringen, vorbringen auch meine Lust am Wissen, am Bei-gebrachten, schließlich heißt Lernen: sich selbst vermehren. Nur eines werde ich nie tun: euch den Mund verbieten, liebe Hilla, lieber Bertram, Vater und Mutter, Tante und Cousinen und wen wir noch alles treffen auf den nächsten Seiten.

Lommer jonn: Hilla liegt in ihrem grün-rot-weiß karierten, frisch gebügelten Schlafanzug in dem sehr schmalen Bett im Hildegard-Kolleg. Es ist kurz vor sieben, und sie hat den Wecker (ein ausrangiertes Stück von Cousine Maria, die mit dem ausgeheilten Brustkrebs) auf halb acht gestellt. Was jetzt? Warten wir eine halbe Stunde, bis sie wach wird – schauen wir zu bei ihrem ersten Erwachen in der neuen Umgebung, schließlich hat sie außer ein paar Übernachtungen bei Schulfreundinnen noch nie unter fremden Dächern geschlafen.

Meine Hilla. Jetzt räkelt sie sich, reckt sich, streckt den Arm aus nach der Lampe, die zu Hause auf dem Nachttisch steht, der ihr Bett von dem des Bruders trennt. Aber die Hand tastet ins Leere, wird in den nächsten Tagen noch öfter danebengreifen, denn hier muss sie abends die Schreibtischlampe neben das Bett stellen, um ein Nachtlicht zu haben, viel zu eng ist das Zimmer für eine Kommode. Hillas Hand, meine Hand, tastet zunehmend unsicherer, flattert auf und ab, ein verschlafenes Stöhnen, ich erwachte von meinem eigenen Stöhnen, glaubte mich auf einem schwankenden Steg über einem Abgrund, ein Traum, der sich seit der Nacht auf der Lichtung so oft wiederholte, dass er mich manchmal, noch während ich träumte, langweilte, was mich nie davon abhielt, zu stöhnen, zu röcheln, bis der Bruder mich rüttelte, Hilla, wach auf. Heute aber weckte mich meine eigene Stimme, mein Ächzen, ich seufzte lauter, tastete schneller, meine Hand fiel in den Abgrund, schon als ich wach war, fiel noch immer in den Abgrund, zog mich mit sich, wo war ich, meine Hand fuhr an meine Schulter im vertrauten Schlafanzug und hinunter zur Bettdecke, schrak zurück. Ich schlug die Augen auf: Was die Hand berührte, war die rauhe Decke, die mit den Hirschen im Wald, ich stöhnte noch einmal, erleichtert, schmiegte mein Gesicht in die Decke, die nach Burger Stumpen und Krüllschnitt roch, küsste die Decke, küsste den Großvater, den Vater, Mutter und Großmutter in dankbarem Jubel, nur an Bertram denken durfte ich nicht, er fehlte in meiner kühn lockenden Welt.

Über mir hörte ich leises Tapsen, nie zuvor hatte ich Schritte über meinem Kopf gehört. Ich schlug die Decke mit einer leichten, geradezu leichtsinnigen Bewegung zur Seite, hinein in das neue Leben, die neue Zeit. Der Tag bricht an, ging mir durch den Kopf, wirklich, mit einer so pompösen Redewendung begann ich meine erste Morgenstund hat Gold im Mund in Köln. War aber doch nur Wasser, das ich wieder und wieder die Kehle hinabrinnen ließ, die Kehle hinab und über das ganze Gesicht, heiß und kalt, lauwarm gemischt, abwechselnd drehte ich an den Wasserhähnen, spielte das Lied der Temperaturen, dachte an den Spülstein zu Hause, wo das eisige Wasser winters wie sommers aus dem mit einem dünnen roten Gummischlauch verlängerten messingfarbenen Wasserhahn lief, den man gar nicht schnell genug wieder zudrehen mochte. Auch ein Handtuch und ein Seifenstück hatte ich jetzt für mich allein, musste nicht mehr mit spitzen Fingern nach der Kernseife greifen, die grau-verkrustet oder braun-schaumschlierig auf dem Beckenrand klebte; sonntags gab es die Seife Fa. Endlich konnte ich, während ich mich wusch und kämmte, in den Spiegel sehen, was zu Hause nur nacheinander möglich war; jeder hatte seinen kleinen Standspiegel dort, wo man ihn gerade aufstellte. Der Spülstein: Wasserstelle für Waschen und Kochen zugleich. Eine Zeitlang musterte ich mein Gesicht, meine Augen sahen in meine Augen, und kurz kam es mir vor, als sei ich selbst der Spiegel, in den die andere so auffordernd hineinblickte. Schau nur, sagte ich, wirst schon sehen. Und ich sah den Heizkörper hinter mir unterm hochgeschlitzten Fenster, und die Heizkörperrippen schillerten im Lampenlicht und sprachen zu mir im Chor: ›Du wirst nie wieder frieren, Edelste‹, nie wieder mit einem glühofenheißen, sandgefüllten Krug ins klammkalte Bett schlüpfen müssen, Eisblumen an den Fenstern, die Pisse im Nachttopf gefroren. Und die Tür neben dem Waschbecken sprach zu mir: ›Schließ mich leise auf, mach mich leise zu, geh aus, mein Herz, und suche Freud, komm zurück und singe und tanze, hab keine Angst, ich steh dir offen, hab keine Angst, ich schließe dich ab, von allem Bösen ab.‹ Und die Zimmerdecke sprach zu mir: ›Ich wölbe mich über dich, trage dir den Himmel zu, ich bin das Eckige, Vierkant, aber der Himmel bist du.‹ Plötzlich musste ich dringend aufs Klo. Das war am anderen Ende des Flurs, zu Hause stand der Nachttopf hinterm Bett des Bruders, nie mehr musste ich mich hinter dem hohen Fußende verbergen, ich klinkte die Tür auf, spähte in den Gang, würde mir als Erstes bei C&A einen Bademantel kaufen.

Und nun tappen ihre nackten Füße – auch Pantoffeln müssen her – den Gang entlang, zum Bad, zu den zwei Klos, den zwei Duschen, und ich spüre den glatten, kühlen, gewachsten Boden unter den Füßen und empfinde bei jedem ihrer bedächtigen, gleichwohl festen Schritte eine kleine Freude. Und mit jedem ihrer Schritte hoffe ich, vorwärts zu schreiben in die Geschichte hinein die Vergangenheit und mit ihr in die Gegenwart, weiter Raum der Geschichte, meiner Geschichte, Hillas Geschichte, alterslos, zeitlos. Schnuppernd suche ich den Duft der Jugend durch meine gealterte Haut hindurch, durch Lippenstift und Kosmetik, hin zum warmen Schweiß eines soeben erwachten Mädchenkörpers, der die Nacht auf der Lichtung niemals begreifen wird. Doch ich werde alles tun, damit meine...

Erscheint lt. Verlag 29.9.2014
Reihe/Serie Die Geschichte der Hilla Palm
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1968er • Anne Gesthuysen • Autobiografie • Bildungsroman • Carmen Korn • Deutsche Gegenwartsliteratur • deutsche Gegenwartsliteratur, Bildungsroman, Entwicklungsroman, Sittenbild der BRD, 1968er, Autobiografie, Studentenrevolution, Frauenroman, Frauenliteratur • eBooks • Entwicklungsroman • Epos • Frauenliteratur • Frauenroman • Hannelore-Greve-Literaturpreis • Hilla Palm • Roman • Romane • Sittenbild der BRD • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • Studentenrevolution • Tetralogie • Töchter einer neuen Zeit
ISBN-10 3-641-13658-X / 364113658X
ISBN-13 978-3-641-13658-1 / 9783641136581
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