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Parallelgeschichten (eBook)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
1728 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01631-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Parallelgeschichten -  Péter Nádas
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Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten «Buch der Erinnerung» legt Péter Nádas sein Opus maximum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt. 1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach dem düsteren Geheimnis einer Familie. Es ist die Geschichte der Budapester Familie Demén und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Vergangenheit verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag am 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 und die Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin. Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Story vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans jedoch bilden die Geschichten der Körper, die für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse werden. Der männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Lebenswirklichkeit der Personen, sie sind das «glühende Magma», das «in der Tiefe ihrer Seele oder ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die «Parallelgeschichten» zur Explosion bringt. Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den «Parallelgeschichten» ihre Vollendung finden.

Péter Nádas, 1942 in Budapest geboren, ist Fotograf und Schriftsteller. Bis 1977 verhinderte die ungarische Zensur das Erscheinen seines ersten Romans «Ende eines Familienromans» (dt. 1979). Sein «Buch der Erinnerung» (dt. 1991) erhielt zahlreiche internationale Literaturpreise. Zuletzt erschienen der große Roman «Parallelgeschichten» und seine Memoiren eines Erzählers: «Aufleuchtende Details». Unter anderem wurde Nádas mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991), dem Kossuth-Preis (1992), dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (1995) und dem Franz-Kafka-Literaturpreis (2003) ausgezeichnet. 2014 wurde ihm der Würth-Preis für Europäische Literatur verliehen. Péter Nádas lebt in Gombosszeg.

Péter Nádas, 1942 in Budapest geboren, ist Fotograf und Schriftsteller. Bis 1977 verhinderte die ungarische Zensur das Erscheinen seines ersten Romans «Ende eines Familienromans» (dt. 1979). Sein «Buch der Erinnerung» (dt. 1991) erhielt zahlreiche internationale Literaturpreise. Zuletzt erschienen der große Roman «Parallelgeschichten» und seine Memoiren eines Erzählers: «Aufleuchtende Details». Unter anderem wurde Nádas mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991), dem Kossuth-Preis (1992), dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (1995) und dem Franz-Kafka-Literaturpreis (2003) ausgezeichnet. 2014 wurde ihm der Würth-Preis für Europäische Literatur verliehen. Péter Nádas lebt in Gombosszeg. Christina Viragh, geboren 1953 in Budapest, wuchs in der Schweiz auf und lebt heute als Autorin und Übersetzerin in Rom. Sie ist korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Übersetzerin von Péter Nádas, Sándor Márai, Imre Kértesz, Henri Alain-Fournier und anderen. 2012 gewann sie den Preis der Leipziger Buchmesse in der Rubrik "Übersetzungen", den Europäischen Übersetzerpreis und, zusammen, mit Péter Nádas, den Brücke-Berlin-Preis.

Der Schöpfer hat es bestimmt so gewollt


Immer wenn er die Stadt verließ, hatte er das Gefühl, er würde endgültig auf etwas verzichten, endgültig etwas verpassen. Er gab nicht viel auf seine Gefühle, solche Anwandlungen, die er zwar zur Kenntnis nahm, verletzten seine Prinzipien.

Emotionale Menschen verachtete er, lehnte Emotionalität überhaupt ab. Erst recht ein solches unwillkürliches und unkontrollierbares Zittern, das ihn vollends durcheinandergebracht hatte. Es erinnerte ihn an bestimmte Verwirrungen und Erregungen, die er sonst sorgfältig verdrängte. Er wusste nicht, woher das Zittern gekommen und wie es dann aus seinen Knochen und Muskeln wieder verschwunden war, jedenfalls fand er, dass es am Vortag zu viel der Emotionen gewesen war, am besten das Ganze so rasch wie möglich vergessen. Auch damit, mit dem Vergessen, wollte er sich nicht beschäftigen. Genauer, er beschäftigte sich damit, das Vergessen so rasch wie möglich zu vergessen.

Von hier aus gesehen erschien die Stadt wie ein endloser, öder Rangierbahnhof. Der Zug ratterte über Weichen, Birken wuchsen zwischen den stillgelegten Gleisen.

Wenn er seine Gefühle ernst genommen, sie nicht verdrängt, sondern sich erlaubt hätte, sie in Ruhe wirken zu lassen, hätte er seine Bitterkeit, seine Einsamkeit ganz nah an sich heranlassen müssen, alles das, was sein Unglück ausmachte und was er ganz und gar nicht zur Kenntnis zu nehmen wünschte.

Seit zwei Jahren lebte er in der Stadt und hatte weder Bekannte noch Freunde. Wie anders hätte er das begründen können, als dass es seinem freien Entschluss entsprach.

Er sagte sich nicht, stimmt, ich bin ein früh verbitterter, ziemlich trauriger Mensch und habe diese Wissenschaften gewählt, um meine Gefühle gegen das ständige Leiden zu wappnen und um gegen den klaffenden Zweifel auch geistig gerüstet zu sein, damit ich vielleicht eines Tages meinem Leiden auf den Grund gehen kann.

Leute, hätte er rufen sollen, ich tue den ganzen Tag so, als wäre alles in Ordnung, aber dadurch leide ich noch mehr. Helft mir, irgendjemand, egal wer, soll kommen, ohne anzuklopfen, rennt mir die Tür ein, egal wann. Nein, er machte es genau umgekehrt, dachte das Gegenteil. Seine Gefühle ließ er nur an seinen Verstand heran, damit der seine Seelenqualen niederringe. Es ging ja auch so. Er sagte sich, dass der Mensch prinzipiell ein Einzelgänger sei, jeder für sich, und am meisten betrügen sich die Menschen, wenn sie in ihrem Fortpflanzungstrieb einen Vorwand für eine dauerhafte Verbindung suchen und sich vormachen, in einem anderen Menschen das berühmte Glück gefunden zu haben. Die würden dann schon noch erwachen. Seelenschmerz vorgeplant. Sie wissen das auch, tun es aber trotzdem. Er hingegen habe mehr Glück, weil er nicht zu solchem Selbstbetrug neige. Er sehe ja, wie andere den ganzen Tag nichts anderes tun, als einander zu hassen, zu vermissen, zu begehren, anzubeten, zu besitzen, er hingegen begehre niemanden, ihm fehle niemand, er komme sehr gut mit sich selbst aus und brauche niemanden zu quälen und zu hassen. Ein erleuchteter Zustand, unvoreingenommen könne er beobachten, was diese einander und sich selbst ausgelieferten Unglücklichen miteinander anstellen.

Die taten ihm wirklich leid.

Döhrings Art war kühl und abweisend genug, jedem die Lust zu einer Annäherung zu nehmen, von seinem Äußeren hingegen hätte man nicht sagen können, dass es etwas Absonderliches hatte, höchstens dass es eher belanglos als aufregend oder interessant wirkte. Im Grunde verachtete er alle, einschließlich der toten Autoren, die er gerne las. Auch deren Leben war voller unappetitlicher, wirrer Angelegenheiten gewesen, was man ihren unsterblichen Werken auch ansah. Dahin wollte er nun wirklich nicht, bloß konnte er über diese Dinge, über die er leidenschaftlich nachdachte, mit niemandem reden, da ihn tatsächlich niemand ansprach, der sich mit ihm über dieses oder jenes Thema ausgetauscht oder eventuell seine Zärtlichkeit in Anspruch genommen hätte.

Solange der Zug noch durch Stadtgebiet fuhr, starrte er zum Fenster hinaus.

Wie jemand, der sich zurückzuhalten versucht oder darauf hofft, dass diese struppigen Gärten, rußschwarzen Brandmauern, trostlosen Bahnhöfe und bleigrauen Hinterhöfe wenigstens seinen Blick zurückhielten, ihn nicht losließen. Wie typisch für ihn, dass er die ganze Zeit auf dem Schoß ein Buch geöffnet hielt, in dem er lesen wollte. Als müsste er fortwährend zwanghaft signalisieren, was für ein beschäftigter Mensch er sei und dass man ihn nicht unnötig stören solle.

Er konnte seinen Kopf nicht abwenden, wollte die Stadt nicht loslassen.

Er fürchtete, man könnte ihn in seiner Abwesenheit irgendeiner Sache beschuldigen. Nicht darüber dachte er nach, was er getan oder unterlassen hatte, was seine Phantasie mit ihm machte oder was überhaupt mit ihm geschah, sondern bloß darüber, dass er sich dem Ermittlungsbeamten gegenüber ungeschickt verhalten hatte. Als habe er nicht nur die Deckung verlassen, sondern mit seiner Geschwätzigkeit eine Menge unübersehbarer und unangenehmer Konsequenzen heraufbeschworen. Das Nervenfieber vom Vortag hatte zwar keinerlei äußere Spuren hinterlassen, höchstens eine unbedeutende Erkältung, er schniefte. Wer ihn anschaute, hätte nur einen streng wirkenden, ruhigen, hochgewachsenen jungen Mann gesehen, der gerade ein wenig vor sich hin träumte, doch irgendwie hatte sich das Fieber in seinen Zellen verbreitet, ein wichtiges Zentrum seines Hirns überflutet und infiziert. Es wühlte seine individuell gestaltete, zerbrechliche innere Welt auf, in der er bis dahin isoliert gelebt hatte; es vergrößerte einzelne Gegenstände seiner Erinnerung und seiner Phantasie, blähte sie auf und ließ der einströmenden Außenwelt jetzt tatsächlich fast keinen Raum mehr. Als er in der Morgenfrühe in den Zug gestiegen war, hatte er beim Öffnen der Abteiltür die dort Sitzenden mechanisch gegrüßt, als er ein paar Stunden später ausstieg, verabschiedete er sich ebenso mechanisch.

Eine seiner Mitreisenden war von seiner Reglosigkeit geradezu überwältigt, aber auch diese junge Frau bemerkte er nicht.

Er fuhr bis Düsseldorf, wo er auf seine Zwillingsschwester warten sollte, die von Frankfurt kam, bis dahin aber waren es noch volle vier Stunden.

Als er endlich dort eintraf, dröhnte es in der mächtigen Ankunftshalle des Bahnhofs und auf allen Bahnsteigen von der widerlichen Masse der gehetzten, drängelnden Menschen.

Sie fuhren selten nach Hause, und diese Fahrten hatten ihr eigenes Ritual, das zu verletzen ihm bis jetzt noch nie in den Sinn gekommen wäre. Die Düsseldorfer Stunden waren, als würde er stufenweise wieder aufgenommen, von der Familie, der Gegend, von allem Vertrauten. Auch wenn er nirgendwo wieder aufgenommen werden wollte. Es war ihm unbehaglich mit seiner Zwillingsschwester, wenigstens hätte sie kein Mädchen sein und ihm nicht so nahe stehen sollen, er wollte seine Familie nicht. Ausbrechen wollte er, wohin aber, das hätte er nicht sagen können. Hinaus aus diesem Familiennetz, das ihn festhielt und dauernd zurückzog, weg von den Frauen. Zwischen den Schließfächern der Gepäckaufbewahrung bewegten sich unter den Überwachungskameras die Menschen, lächerlich auch sie. Jeder suchte sich das sicherste Schließfach, aus dem seine Sachen nicht gestohlen würden. Döhring stieß sein Gepäck demonstrativ in das erstbeste, vorderste Fach. Die Scherben einer zerbrochenen Bierflasche knirschten unter seinen Sohlen, in der Ecke stank ein Obdachloser, die Flasche hatte wahrscheinlich er fallen lassen, jetzt schnarchte er stockbesoffen.

Döhring nahm den gewohnten Weg zur Wohnung seiner Tante, die ihn bei solchen Gelegenheiten mit einem üppigen Frühstück erwartete.

Das waren ihre gemeinsamen Stunden, auf die sich beide still vorbereiteten.

Er hatte einen Fußweg von etwa zehn Minuten, aber in die Straße bog er nicht ein.

Womit tatsächlich ein langjähriges, in den unbewussten Dämmer der Kindheit zurückreichendes Spiel unterbrochen wurde. Das Spiel ging so, dass die schöne Tante seine Lieblingstante war, und sie beide würden sich im Widerstand gegen ihre primitive und durchschnittlich spießbürgerliche Familie heiß lieben. Als würde von ihm verlangt, dass er im Interesse seiner Unabhängigkeit statt seiner Schwester die Tante liebe. Welche tatsächlich eine ansehnliche Erscheinung war, eine amüsante, fröhliche, wohlhabende Fünfzigerin, seit Jahrzehnten in der Modebranche tätig, als Repräsentantin eines solid renommierten italienischen Großkonzerns, wobei sie ein strenges, beinahe asketisches, relativ freies Leben führte. Sie reiste auf dem ganzen Kontinent umher, beschäftigte an den entlegensten Orten Menschen, die ein außergewöhnliches Handwerk betrieben, Perlenaufzieher, Leineweber, Spitzenklöppler, Posamentierer. Wahrscheinlich war es eher sie, die einen Lieblingsneffen brauchte, von dem sie viel erwarten durfte, dessen Existenz sie aber zu nichts verpflichtete, das eigene Kinder von ihr verlangt hätten, und da sie zu gegebener Zeit überhaupt nicht daran gedacht hatte, Kinder zu gebären, war sie es gewesen, die den kleinen Jungen zu dem Endlosspiel verlockt hatte. Sie hatte ihn tatsächlich von seiner Zwillingsschwester getrennt. Bot ihm geistige und finanzielle Möglichkeiten, die ihm aus dem Familiennest, aus der Eingebundenheit in die Sippe hinaushalfen in die weite Welt.

Jedenfalls spielten sie das gefährliche Spiel, dass so etwas möglich sei.

Die Tante wohnte in der Nähe des Hofgartens, in einer teuren Wohnung, durch die drei hohen Fenster des Esszimmers sah man auf die mächtigen Bäume des uralten Parks hinaus. In Düsseldorf war es an dem Tag nicht sehr kalt, der Himmel aber war dunkel, zwischen den kahlen Bäumen heulte der Wind....

Erscheint lt. Verlag 16.2.2012
Übersetzer Christina Viragh
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Berlin • Epoche • Ungarn
ISBN-10 3-644-01631-3 / 3644016313
ISBN-13 978-3-644-01631-6 / 9783644016316
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